Kettcar, Schloss Schwerin, 1. September 2024
Erster September, nun bestätigt auch der Kalender unmissverständlich, dass sich der Sommer seinem Ende nähert. Wettertechnisch lässt dieser sich das zwar nicht anmerken, aber das Zusammenspiel von Tageszeit und früher einsetzender Dämmerung kann auch ich nicht wegdiskutieren. Wenigstens musikalisch gibt mir der Tag in Schwerin die Möglichkeit, den Abschied von der warmen Jahreszeit angemessen zu begleiten. Muss ja.
Die Zeit zwischen Frühstück und Konzert vertreibe ich mir bei weit aufgerissener Balkontür, im Rücken der laufende Ventilator, Jörg Kachelmann wäre stolz auf mich, vorm Radio. Mein Lieblingssender zelebriert, passend zur angekündigten Oasis-Reunion, als hätten sie es schon bei der Jahres-Programmplanung gewusst, am siebenten und letzten „Sommersonntag“ des Jahres 2024 die 100 besten Songs der Britpop-Ära. Als kurz vor 19 Uhr der Siegertitel verkündet wird, befinde ich mich schon im Schweriner Schlosshof, wo wenige Augenblicke später die Band des Abends unter großem Jubel der Anwesenden die Bühne betritt.
Das Schloss
Es ist für mich die fünfte Veranstaltung an diesem Ort, und ich werde nicht müde, die Großartigkeit der Location zu preisen, deren Aura und Würde alle(s) und jede*n ergreift, der/die/das sich im Inneren befindet, ob für Konzert(e), Filmpremiere, sogar „Polittalk“ (keine Sorge, keiner dieser unerträglichen Brüll-Wettbewerbe). Ein schönes (in jeder Hinsicht) Beispiel dafür, wie Weltkultur unmittelbar ihren Erben zugutekommt.
Neuland
Es ist für Kettcar (Bandgründung 2001) das erste Gastspiel in Schwerin. Warum das so lange gedauert hat, dafür gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Sind etwa auch dafür die Grünen verantwortlich? *just kidding* Das wird wohl mein politischster Konzertbericht seit … SCHLUSS! Nicht, dass noch jemand einschläft.
Bassist Reimer Bustorff zitiert in seinen Begrüßungsworten seine Mutter, die vermutete: „Wenn die euch nicht wollen, seid ihr vielleicht nicht gut genug?“
Wie auch immer, nun sind sie ja da. Einen mitentscheidenden Anstoß zum Zustandekommen des Konzertes an diesem Ort hat wohl Thees Uhlmann gegeben, der 2020 selbst hier aufgetreten ist und seine angenehmen Eindrücke geteilt hat. Gut gemacht!
Der Neuling
Nicht nur für die Band ist dieser Abend in Schwerin das erste Mal. Ich wusste bis vor wenigen Jahren über Kettcar, dass es sie gibt, kannte aber nicht einen einzigen Song von ihnen. Irgendwie ist da etwas komplett an mir vorbeigegangen. Den Namen Marcus Wiebusch nahm ich zum ersten Mal wahr, als „Fußball ist immer noch wichtig“ veröffentlicht wurde, ein Lied, das ich vollinhaltlich mittrage, das mich aber bis heute musikalisch nicht „abholt“. Aber zumindest konnte ich meine Kenntnisse bezüglich des Hamburger Musikschaffens etwas bereichern. Bei meinem bereits erwähnten Lieblingssender und auf einem Seapunks-Soli-Sampler zugunsten der Seenotrettung begegnete mir „Sommer 89“, was mich mit dem ersten Hören gefangen nahm, auch musikalisch, und so nahmen die Dinge ihren Lauf.
Fast wäre ich 2020 oder so in den Genuss eines Wohnzimmerkonzertes mit Marcus Wiebusch bei meiner lieben Freundin Naddy* (ich glaube, es ist nicht unbedingt falsch, sie als „Kettcar-Ultra“ zu bezeichnen) gekommen, leider war ich zu dem Zeitpunkt gesundheitlich nicht stabil genug für solch einen intensiven Abend samt Reise, Übernachtung und etwaigen Begleiterscheinungen.
Mit der Ankündigung des neuen Albums Anfang 2024 hörte ich dann im Radio und bei einschlägigen Podcasts immer mehr über die Band und von ihr. Gleich am Release-Tag lag „Gute Laune ungerecht verteilt“ in meinem Briefkasten, und hier stehe ich nun, ich kann nicht anders.
Der wunderbare Spätsommerabend ist von großer Harmonie erfüllt, Profis sprechen da gern von stimmender „Chemie“ zwischen Band und Publikum, ich beschränke mich als „Kettcar-Ersti“ vielleicht auf ein so profanes wie zutreffendes GEIL! Ups! Das ist mir kürzlich im Telefonat mit meiner Enkelin (fast 8) „herausgerutscht“, aber meine Tochter konnte mich beruhigen: Das kennt sie schon längst.
Wie es für einen „Rookie“ nun mal so ist, erkenne ich die Songs nicht mit dem ersten Takt, ganz zu schweigen davon, dass ich keinen einzigen mitsingen kann – im Gegensatz zum überwiegenden Teil der Umstehenden. Es führt offenbar kein Weg daran vorbei, mir weitere Tonträger aus dem Katalog der Band zu beschaffen, damit das nicht noch einmal vorkommt.
Musikalisch erlebe ich einen tollen Abend, mit perfektem, auf die Umgebung abgestimmtem Sound, ich stelle wieder einmal fest, wie großartig Bands mit zwei Gitarren klingen, abgerundet durch Tasten und Bass und getrieben von energiegeladenen Drums, entsteht dank perfekter Abmischung ein dichtes Klangerlebnis, ohne dass der Gesang „untergeht“, auch wenn ich nicht immer jedes einzelne Wort verstehe. So bekomme ich die Unterschiede zwischen „Politischem“ und dem „romantischen Scheiß“ (so Mutter Bustorff) nicht immer mit. Aber ein paar Songs sind dabei, da funktioniert es zu 100 Prozent: Das ist das schon erwähnte „Sommer 89“, dann „München“, die beide vor dem Hintergrund dieses 1. September 2024 zu bedrückender Aktualität verschmelzen.
Den emotionalen Höhepunkt bildet „Der Tag wird kommen“, wie Band und Publikum eins werden, ist ergreifend und einzigartig, ich war lange nicht so geflasht vom Augenblick.
Setlist
Auch für mich 6. Stunde
Benzin und Kartoffelchips
Rettung
Balkon gegenüber
Kanye in Bayreuth
48 Stunden
München
Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)
Balu
Der Tag wird kommen
Money Left to Burn
Anders als gedacht
Kein Außen mehr
Notiz an mich selbst
Ein Brief meines 20-jährigen Ichs (Jedes Ideal ist ein Richter)
Im Taxi weinen
Landungsbrücken raus
Den Revolver entsichern
Ich danke der Academy
Deiche
Mein Skateboard kriegt mein Zahnarzt
*Name geändert
Tipp zum Weiterlesen
Am Vortag spielte Kettcar, unterstützt von Thees Uhlmann, in Linz. Eine gute Freundin aus Wien war dabei und berichtet hier.

3. September 2024 um 17:00
Danke für den Bericht. So ähnlich habe ich mich bei meinem ersten kettcar-Konzert gefühlt, aber ich spürte schon die Energie der Band, die auf das Publikum überging und zurück – und ich wollte sie wiedersehen.
Die Kalauer mit Mutter Bustorff hat Reimer auch in Linz erzählt, aber leider habe ich nicht alles verstanden.
Oh ja, „Der Tag wird kommen“ ist live ein emotionaler Moment.
Und ich danke Dir recht herzlich für die Verlinkung zu meinem Bericht.
Liebe Grüße aus Wien schicke ich Dir!