Hanseator

Musik, Fußball und manchmal auch ein bisschen Hansa

The Wall

Ein Kommentar

Live in Hamburg (2011) und Berlin (2013), Tourfilm (2015)

Das erste, was ich je von „The Wall“ zu hören bekam, war die dritte Albumseite, und zwar aus einem ganz profanen Grund. Einfach das Album im Plattenladen zu kaufen, war bekanntlich nicht möglich, die Lösung hieß: Warten auf „Duett – Musik für den Recorder“. Irgendwann, kurz nach Veröffentlichung des Albums und noch bevor es komplett zum Mitschneiden gespielt wurde, lief eines Tages besagte C-Seite, die mich dazu brachte, wochenlang nichts anderes mehr zu hören. Ich verstand damals die Texte nur teilweise, und um die Gesamtaussage des Albums zu erfassen, habe ich Jahre gebraucht, aber die Musik hatte mich sofort gepackt. Von den ersten leisen Akustik-Takten im Intro zu „Hey you“ bis zu David Gilmours furiosem Gitarrensolo am Ende von „Comfortably numb“ ist dieser ungefähr 20minütige Abschnitt der Höhepunkt innerhalb eines gigantischen Meisterwerkes und in meiner persönlichen Rangliste die beste Albumseite aller Zeiten.

Der atmosphärisch einzigartige Mix aus Wucht und Kraft, Melancholie, Verzweiflung und Resignation ging und geht so zu Herzen, dass ich noch heute, mehr als 35 Jahre später beim Anhören eine Gänsehaut bekomme. Die sprichwörtliche Einheit von Inhalt und Form – hier wird sie erlebbar, spürbar. Da ist das Einzeiler-Intermezzo „Is there anybody out there“, fast eine Art Sprechgesang, gefolgt von einem wunderschönen Solo auf der Akustikgitarre, gespielt von Altmeister Snowy White, und „Nobody home“, das wiederum in das unter die Haut gehende „Vera“ mit dem finalen Appell „Bring the boys back home“ übergeht, bevor dann mit „Comfortably numb“, einem der schönsten Werke der Rockgeschichte überhaupt, eine emotionale und musikalische Explosion der Sinne die Seite beschließt.

Im Laufe der Zeit fanden verschiedene Versionen von „The Wall“ den Weg in meine Musiksammlung, allen voran das Originalalbum und das 1990er Berliner Konzert von Roger Waters & Friends, beides auf Vinyl, natürlich der Film mit Bob Geldof in der Hauptrolle und schließlich der Konzertmitschnitt aus dem Londoner Earls Court von 1980 mit dem Titel „Is there anybody out there“.

Von den legendären, überaus aufwändig produzierten Live-Aufführungen hatte ich über die Jahre einiges gehört und gelesen, derartiges selbst einmal zu erleben, schien lange unmöglich. Da war zum einen der gigantische Produktionsaufwand, der 1980 schon dafür sorgte, dass die Show nur an vier Standorten aufgeführt wurde. Zum anderen war Roger Waters bei Pink Floyd ausgestiegen, und noch einmal würde der sich den Stress wie beim Berliner Konzert 1990 ja sicher nicht geben wollen. Wie wir heute wissen, lag ich mit dieser Annahme mächtig daneben.

Von wegen „kein Stress“ – zwischen 2010 und 2013 ging Waters tatsächlich mit „The Wall“ auf Welttournee, es gab 219 Konzerte in 33 Ländern, sowohl in Hallen als auch in Stadien. Fast alle Shows waren ausverkauft und das trotz teilweise astronomischer Eintrittspreise. Ich gebe zu, ich habe mir das Ereignis auch zweimal gegönnt: einmal überdacht 2011 in der Hamburger O2 World und dann 2013 im Berliner Olympiastadion. Es waren zwei außergewöhnliche Abende, die für die größte akustische und optische Reizüberflutung sorgten, der ich mich je bei Konzerten ausgesetzt sah. Die Eindrücke waren unglaublich stark, es fiel und fällt schwer, passende Worte zur Beschreibung zu finden, die dem Erlebten auch nur annähernd gerecht würden.

Die Show ist eine unaufhörliche Abfolge von Musik, Bildern und Videosequenzen, dazu gibt es animierte Riesenfiguren, die bereits vom LP-Cover bekannt sind. So findet sich der Zuschauer gleich zu Beginn („In the flesh?“) mitten in Gefechtshandlungen wieder, Schüsse fallen, Bomben detonieren um einen herum, ein Flugzeug rast dröhnend über die Köpfe des Publikums hinweg und kracht mit einer gewaltigen Explosion in eine Mauer.

Mit „Another brick … Pt. 1“ / „The happiest days in our lives” / „Another brick … Pt. 2” folgt eine der berühmtesten Passagen des Albums. „You! Yes you! Stand still laddy!“ Das Publikum im bestuhlten Bereich steht zum ersten Mal, die Multimedia-Show gleicht vorübergehend einem „normalen“ Konzert. Ein Chor von Schülern aus der Stadt verstärkt das Ensemble: „Hey teacher, leave us kids alone!“ – Party auf und vor der Bühne.

Dann wird es ruhiger. Roger greift zur Akustikgitarre und kündigt „Mother“ an. Videoaufnahmen von 1980 aus dem Londoner Earls Court zeigen den jungen Roger, während der „alte“ den Song quasi im Duett mit sich selbst singt – ein erster emotionaler Höhepunkt des Abends. Videosequenzen einer beängstigend fürsorglichen „Big Mother“ illustrieren den Song, die Frage „Mother should I trust the government?“ wird in blutroter Schrift beantwortet: NO FUCKING WAY!

Die zweite Albumseite wird mit vielen bereits aus der Verfilmung bekannten Zeichentrickszenen visuell unterstützt, während die Mauer zwischen Band und Publikum wächst. Auf der nun vollständigen Projektionsfläche erscheinen während einer zwanzigminütigen Pause Fotos zahlreicher Opfer von Kriegen und Terrorakten, die aus aller Welt eingesandt worden waren.

Nach der Pause strebt die Show zum musikalischen, optischen und emotionalen Höhepunkt. Die dritte Albumseite übertrifft in der Live-Kombination von Musik und Bildern die eigenen Erinnerungen und über Jahre entwickelte innere Bilder. Die Umsetzung ist unglaublich kraftvoll und führt den Betrachter an emotionale Grenzen: Bei „Vera“ / „Bring the boys back home“ sind neben dem Eisenhower-Zitat („Chance for peace speech“, 1953)

„Every gun that is made, every warship launched, every rocket fired signifies, in the final sense, a theft from those who hunger and are not fed, those who are cold and are not clothed.”

ergreifende Aufnahmen von Kindern zu sehen, die völlig unvorbereitet in Alltagssituationen ihren aus dem Krieg heimkehrenden Vätern gegenüberstehen. Die nur schwer zu ertragenden Sequenzen münden in den eindringlichen Appell: BRINGT SIE NACH HAUSE!

Es folgt DER Höhepunkt: „Comfortably numb“, das Publikum ist längst selbst Teil des Geschehens und geht in einem einzigen Rausch aus Tönen und Farben auf, der sich jeder Beschreibung entzieht. Eine ungefähre Vorstellung davon kann man sich auf diversen Video-Plattformen verschaffen, auch wenn diese das Live-Erlebnis natürlich nicht ersetzen.

Die letzte Albumseite bis hin zum Finale mit „The trial“ ist dann ein Selbstläufer für Band und Publikum und gleichzeitig eine Demonstration, welch verhängnisvolle Macht aus der Kombination Rockstar/Diktator erwachsen kann und wie verschwommen die Grenzen zwischen beidem sein können („In the flesh“ / „Run like hell“ / Waiting for the worms“). Der finale Einsturz der Mauer kommt einer Erlösung für alle gleich.

Vor wenigen Tagen hatte nun der Film zur Tour Premiere und bot die Möglichkeit, das Erlebte vor dem Erwerb der demnächst sicher erscheinenden DVD (Weihnachten naht) noch einmal auf großer Leinwand zu sehen. Unabhängig von kommerziellen Gesichtspunkten hat sich die Verfilmung auf jeden Fall gelohnt, denn es bietet sich neben Blicken hinter die Kulissen der Tour ein sehr persönliches Porträt des Künstlers Roger Waters auf dem Weg zu sich selbst.

Die Show wird in eine Rahmenhandlung eingebettet: Roger besucht die Kriegsgräber seines im 1. Weltkrieg gefallenen Großvaters und seines Vaters, der aus dem 2. Weltkrieg nicht zurückkehrte und den er nie kennengelernt hatte. Die Kindheit als Halbwaise hat Roger sein ganzes Leben beschäftigt, noch mit fast 70 Jahren kommen ihm beim Lesen eines Briefes, in dem der Einheitskommandeur der Familie den Tod des Vaters mitteilt, die Tränen. Auf seiner sehr emotionalen Reise begleiten ihn Familienmitglieder und Freunde. Es sind stille, intensive Momente innerer Einkehr und Selbstreflektion, die einen starken Kontrast zu den bildgewaltigen Konzertaufnahmen herstellen und den Filmbesuchern im Gegensatz zum Stadionpublikum Momente zum Durchatmen lassen.

Die Aufnahmen der Shows (es wurden verschiedene Konzerte „zusammengeschnitten“) vermitteln eine Ahnung von dem, was die Konzertbesucher erleben durften, und ergänzen deren Perspektive um Blicke hinter die Mauer auf der Bühne. Als besonderes Bonbon für Kenner werden mit „… where we came in?“ und „Is this not …“ Anfang und Ende des „Originalfilms“ zitiert, was den Bogen zurück ans Ende der 70er Jahre schlägt. Aus heutiger Sicht wirkt der Prozess von der Idee und Entstehung des Albums über 35 Jahre bis hin zur großen Welttournee, als hätte ihm ein großes, visionäres Konzept zugrunde gelegen, aber ich glaube nicht, dass man damals schon so weit voraus gedacht hatte, vom baldigen Ausstieg Rogers bei Pink Floyd und den späteren Konflikten ganz zu schweigen.

Als „Zugabe“ zum Film beantworten Roger und Pink-Floyd-Drummer Nick Mason gemeinsam Fragen von Fans, eine launige Begegnung, in der beide viel Selbstironie und Sinn für Humor beweisen. Ich freue mich auf die Veröffentlichung der DVD/Bluray und hoffe noch auf das eine oder andere Extra. Wann ist endlich Weihnachten?

Ein Kommentar zu “The Wall

  1. Sehr interessant! Insbesondere, weil The Wall mich mein Leben lang nicht losgelassen hat. Ich danke Dir für Deine Zeilen!

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