Udo Lindenberg im Olympiastadion Berlin, 14. Juli 2015
Genau einen Tag, einen Monat und ein Jahr hat es gedauert bis zum Wiedersehen mit Udo Lindenberg und dem Panikorchester nach dem wunderbaren Konzertabend in Leipzig am 13. Juni 2014. Und die diesjährige Auflage der Panikparty stand dem 2014er Event in keiner Weise nach.
Wie vor jedem Konzert im Olympiastadion ist auch heute das Preußische Landwirtshaus Anlauf- und Treffpunkt mit ein paar Freunden. Es ist nicht so voll wie vor drei Wochen bei AC/DC, die Schlange vor der Damentoilette ist aber erstaunlicherweise noch länger, wie auch das Grinsen der Herren deutlich breiter. Eine der Damen entschließt sich in einer Mischung aus Mut und Verzweiflung, ins Reich des Bösen einzudringen. Es muss wirklich dringend sein, denn sie findet nicht mal die Zeit, hochgeklappte Deckel anzuprangern. Es reicht zumindest für ein eilig herausgepresstes „Ich gucke auch nicht“, so viel Zeit muss sein.
Das Gartenrevier wird von zwei Mädels betreut, die das wohl nicht allzu oft machen. Es ist lustig zu beobachten, wie sie an mehreren Tischen Bestellungen notieren, ein paar Minuten später mit einem vollen Tablett, aber ohne ihre Notizen wiederkommen und dann tischweise versuchen, die richtigen Getränke an den Mann/die Frau zu bringen. Die Unterscheidung zwischen Bier und Alster wird sogar mittels Geruchsprobe vorgenommen. Die beiden haben dabei übrigens genauso viel Spaß wie ihre Gäste.
Das Stadion ist mit ca. 50000 Besuchern nicht ausverkauft, auch ganz vorn geht es ziemlich locker zu. Dank „Front of Stage“ Tickets erleben wir den Abend in entspannter Position mit hervorragender Sicht auf das Bühnengeschehen. Wer darauf verzichten kann, direkt am Bühnenrand zu stehen, hat wirklich viel Bewegungsfreiheit. Um mich herum (vielleicht 20 Meter vom Bühnengraben entfernt, halbrechts) tanzen und turnen den ganzen Abend drei Mädchen, der Platz reicht sogar aus, um Räder zu schlagen.
Im Vorprogramm versucht Bülent Ceylan, die Leute schon ein wenig in Stimmung zu bringen. Die beabsichtigte Botschaft – für Toleranz und gegen Fremdenhass – ist lobenswert, stilistisch ist seine Art von Humor (Betrachtungen über die Unterschiede zwischen männlicher und weiblicher Flatulenz) aber nicht so mein Fall. Ich bin mir auch nicht sicher, ob rassistische Sprüche wirklich „witziger“ werden, wenn man sie Türken oder Arabern in den Mund legt. Ist wohl Geschmackssache. Ob man aber ausgerechnet in diesem Olympiastadion einen (noch dazu uralten, nicht mal eigenen) Karnevalsgag mit „Sieg – Heil!“ bringen muss? Das ist dann wohl dem Künstler selbst peinlich, so dass er das Kurzprogramm mit einem in seiner Aussage klaren Song gegen Rassismus beschließt – nicht, ohne vorher mit dem Publikum zu üben, an welchen Stellen es „Ja!“ oder „Nein!“ rufen muss. Sicher ist sicher.
Die Umbaupause wird mit klassischen Klängen überbrückt: Smetanas „Moldau“ und Tschaikowskis „Schwanensee“ spülen die Missklänge aus den Ohren, wir sind bereit für einen unvergesslichen Abend mit Udo Lindenberg und Freunden. Im Großen und Ganzen sehen wir die gleiche Show wie im vergangenen Jahr, das Programm ist aber sowohl musikalisch, als auch optisch mit so unfassbar vielen Eindrücken gefüllt, dass ich sie wohl noch mehrfach ansehen könnte und jedes Mal wieder für mich Neues entdecken würde.
Es ist schwer, aus einer rundum gelungenen Darbietung, für die es derzeit in Deutschland wohl nichts Vergleichbares gibt, einzelne Höhepunkte herauszugreifen. Udo bedient gekonnt das ganze Spektrum an Emotionen, es ist ein permanenter Wechsel zwischen rauschender Party und nachdenklichen Momenten. Und auch die Songs für den sprichwörtlichen „Kloß im Hals“ werden so dargeboten, dass es nicht eine Sekunde kitschig wirkt.
Die für mich stärksten Momente erreicht die Show vor allem bei sehr persönlichen Liedern wie „Wozu sind Kriege da?“ (großartig und anrührend der Gesang der „Kids on Stage“, da beschlagen beim Mitsingen die eigenen Stimmbänder und man kann nichts dagegen tun) oder „Gegen die Strömung“ mit der Musicaldarstellerin Josephin Busch. Ganz stark auch der neue, Susi Kentikian gewidmete, Song „Wir werden jetzt Freunde“, eine große, wichtige Aussage mit einfachen, greifbaren Worten in einer Zeit, in der sich Flüchtlinge mancherorts in diesem Land übelster Hetze und Bedrohung ausgesetzt sehen.
Stichwort „Freunde“: Auch 2015 wird Udo in seiner dreistündigen Revue von vielen guten Freunden unterstützt, mein persönliches Highlight ist hier das mitreißende „Bunte Republik Deutschland“ mit Adel Tawil und Max Herre, auch Eric Burdons Gastauftritt bei „We gotta get out of this place“ sorgt für erhöhte Adrenalinzufuhr. Zum Teil geben sich die Gäste buchstäblich die Klinke in die Hand, so dass ich Mühe habe, den Überblick zu behalten – Clueso (Cello), Jan Delay (Ganz anders, Reeperbahn), Otto (Highway to hell, Der Greis ist heiß) und Stefanie Heinzmann sind dabei. Letztere registriere ich erst bei der Verabschiedung am Ende der Show, ich sagte ja schon, dass die Reizüberflutung von der Bühne aus sehr groß ist. Auch instrumentale Verstärkung ist dabei, allen voran die fantastische Gitarristin Carola Kretschmer und – was soll ich sagen – HELGE SCHNEIDER AM SAXOFON! Und mit Sebastian Krumbiegel als Barkeeper ist schließlich auch noch eine „Nebenrolle“ spitzenmäßig besetzt.
Für Udo ist es ein ganz spezieller Abend, das wird wiederholt deutlich. Mit diesem großen Konzert in Berlin verwirklicht er einen seiner Lebensträume, und so wirkt es auch nie gekünstelt, wenn er nach mehr als 25 Jahren unbändige Freude über das Ende der deutschen Teilung empfindet und wiederholt zum Ausdruck bringt. „Berlin! Yeah! Yeah! Berlin!“ Dieser Abend im Olympiastadion ist nicht einfach nur ein Konzert, es ist ein großes Familientreffen und man wünscht sich, es würde nie enden.
Man sieht Udo am Ende die Rührung an, als er sich von den Fans verabschiedet, und wie schon vor einem Jahr in Leipzig hoffe ich wieder, dass es kein endgültiger Abschied bleibt und es ein Wiedersehen auf einer anderen Bühne gibt.
„Unsere Herzen bleiben hier, nur unsere Füße müssen weiter.“