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Jamel rockt den Förster – Festival für Demokratie und Toleranz, 26./27. August 2016

Zum zehnten Mal fand am vergangenen Wochenende das Festival für Demokratie und Toleranz „Jamel rockt den Förster“ im Garten der dort ansässigen Familie Lohmeyer statt. Bereits im vergangenen Jahr, nach dem Überraschungsauftritt der Toten Hosen, und nachdem ich diese deutschnationale Mustergemeinde erstmals mit eigenen Augen gesehen hatte, war mein Entschluss gereift, auf jeden Fall auch 2016 das Festival zu besuchen. Egal, welche Bands da spielen würden, das Anliegen der Veranstalter war es wert unterstützt zu werden, und die positive, freundliche Atmosphäre hatte mir bei meinem ersten Besuch 2015 auch gleich gefallen.

Nun, das diesjährige Line-up versprach durchaus ein vielseitiges Programm mit bekannten und (zumindest mir) unbekannten Künstlern und Bands, was ja auch zur Erweiterung des eigenen musikalischen Horizontes beitragen würde. Meine Erwartungen wurden in vollem Umfang erfüllt und – wie wir ja inzwischen wissen – sogar übertroffen.

Tag 1

Der Andrang am Ortseingang ist am Freitagnachmittag deutlich überschaubarer als beim Gastspiel der Toten Hosen im letzten Jahr. Die auftretenden Bands sind bekannt und alle Tickets im Vorverkauf abgesetzt worden, es gibt also keinen großen Ansturm kurzentschlossener Spontanbesucher. Ich bekomme sogar noch einen Parkplatz unmittelbar am Haupteingang. Während sich der eine oder andere Gast noch ein wenig mit Sightseeing im Dorf die Zeit vertreibt, habe ich dazu keine Lust. Mit der über einem Gebäude wehenden, weithin sichtbaren Reichsflagge habe ich schon genug gesehen, ich begebe mich direkt auf das Festivalgelände.

Drinnen nutze ich den noch geringen Andrang, um etwas Nahrung zu mir zu nehmen und die Flüssigkeitsreserven aufzufüllen, schließlich stehen auch wettertechnisch zwei heiße Tage bevor. Ich suche mir einen schattigen Sitzplatz, kaum habe ich mich niedergelassen, läuft auch schon Bela B. an mir vorbei. Um mich mit meinem mühsamen Aufstehversuch vor dem unwesentlich Älteren nicht zu blamieren (ich sage nur: Knie), verzichte ich darauf, ihn um ein gemeinsames Foto zu bitten. Vielleicht klappt es ja ein anderes Mal.

Pünktlich gegen 18 Uhr beginnt das Programm auf der Bühne, zur Eröffnung spielt eine Band namens Karl Heinz Johnson. Der Legende nach hat sich das Quartett (Gitarre, Bass, Keyboards, Schlagzeug) aus Berlin nach einer neuseeländischen Kegellegende benannt. Die Musik klingt deutlich weniger exotisch, laut Selbstauskunft der Band eine Mischung aus Dosenbier und Peter Gabriel mit Anklängen von 90er Gitarrenbands. Muss ich mir, glaube ich, nochmal in Ruhe anhören, die manchmal sehr dominanten Orgelklänge haben auf jeden Fall etwas.

Es folgt Captain Planet aus Hamburg. Ihre Musik wird auf Wikipedia als „Emo-Punk“ bezeichnet, das erste Album der Band wurde 2007 sogar mal in der „Zeit“ als eine der besten Punkplatten der letzten Jahre bejubelt. Vielleicht bin ich nicht emotional genug, denn ich finde keinen richtigen Zugang zu den Songs. Das sieht ein großer Teil des immer zahlreicher werdenden Publikums anders, vor der Bühne geht es erstmals richtig ab, es wird auch etwas heftiger getanzt, also vernachlässigt meine unmaßgebliche Meinung hier einfach.

Die Vorstellung der nächsten Band, nutzt der Moderator, um ein Versäumnis zu korrigieren: „Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, ich bin … (leider vergessen, Entschuldigung) … von Radio Bremen. Was macht ein Bremer hier beim Festival in Mecklenburg-Vorpommern? Ich bin eigentlich nur aus einem Grund hier. Wegen Bela B. … Nein, natürlich nicht, sondern wegen Birgit und Horst Lohmeyer.“

Wenn ein Bela B. auf Solopfaden unterwegs ist, weckt das natürlich eine gewisse, unbewusste Erwartungshaltung. Das war auch schon bei seinem Arztkollegen Farin Urlaub so, der diese Erwartungen mit dem Racing Team in jeder Hinsicht erfüllt hat. Bela wagt sich mit dem aktuellen Projekt in andere Gefilde. Mit den Hamburger Musikern von Danube’s Bank spielt er Musik, die von den Nazis einst als „entartete Kunst“ verunglimpft worden war – Swing, Gypsy Style und Klezmer – und alles mit einer Prise Punk.

In seinem schicken goldenen Anzug (als erster Künstler seit Elvis) erobert Bela das Publikum im Sturm, die schwungvolle, mitreißende Musik tut ihr Übriges. Ein recht witziger Song (From a logical point of view, Robert Mitchum) enthält den Tipp an einen jungen Mann, sich für die Ehe auf jeden Fall eine Frau zu suchen, die hässlicher als er selbst ist. Zwischendurch gibt es auch den einen oder anderen Ärzte-Song in neuem musikalischem Gewand: „Ignorama“ oder das großartige „Perfekt“, bei dem der Sänger seinem Klarinettisten fast das Solo verdirbt, um ihn dann hochdramatisch zu fragen: „Warum kann’s nicht perfekt sein, ist das denn schon zu viel verlangt?“. Aber auch thematisch passende Songs sind zu hören, wie das hochaktuelle „Ihr seid nicht das Volk“, ein Gruß an all die „Wutbürger“ im Lande.

Krönung des Auftrittes sind die beiden Zugaben, dafür haben die Musiker zwei sehr alte, aber umso passendere Songs ausgewählt: „Der Fuehrer‘s face“, ein amerikanisches Spottlied auf Hitler und Konsorten aus dem gleichnamigen Disney Film mit Donald Duck von 1943, und abschließend den jiddischen Evergreen „Bei Mir Bistu Shein“ (1932). Dieses letzte Lied ist den Lohmeyers gewidmet. Während sich die Musiker unter großem Applaus verabschieden, frage ich mich insgeheim (und sicher nicht nur ich), warum eigentlich „Schrei nach Liebe“ im Programm gefehlt hat.

Viel Zeit, um mich zu grämen, ist nicht, denn jetzt kommt mit Madsen eine für mich komplett neue Band. Das einzige, was mir über den musikalischen Familienbetrieb vor diesem Festival bekannt war, ist seine Existenz. Auf Festivalplakaten habe ich schon den Bandnamen gelesen, aber das war es dann auch, ich höre Madsen heute tatsächlich zum ersten Mal. Und ich muss sagen, es macht echt Lust auf mehr. Höhepunkte eines energiegeladenen Auftrittes sind „So cool bist du nicht“ und vor allem das mitreißende „Lass die Musik an“, der vielstimmige Backgroundgesang des Publikums klingt atemberaubend.

Unter großem Jubel verabschiedet sich Madsen vom Publikum, Sänger Sebastian kündigt an: „Wir verbeugen uns jetzt schnell noch und dann passiert hier gleich etwas Großes. Dafür bleibt noch kurz unsere Anlage stehen.“ Beim Abgang von der Bühne übergibt er das Mikrofon an Bela B., der sich zunächst entschuldigt, dass er ganz vergessen hatte, ein bestimmtes Lied zu spielen. Es ist (natürlich) „Schrei nach Liebe“, dafür brauche er aber noch einen Bassisten, am besten einen aus Chile, und einen Gitarristen, gern 2,10 Meter groß. Kaum ausgesprochen, erscheinen Rod und Farin, und dann hämmern die Ärzte DEN Song durch die Boxen, tausendfach schallt es durch die nordwestmecklenburgische Nacht: „Arschloch!“

Den Abschluss bildet Fettes Brot. Da sie sich nicht über die korrekte Aussprache des Ortsnamens einigen können, benennen die Hip-Hop-Veteranen den Veranstaltungsort kurzerhand um in „Jamal“. Mit Klassikern wie „Emanuela“, „Bettina, zieh dir bitte etwas an“ und natürlich „Schwule Mädchen“, die sogar ich kenne, geht eine rauschende Party zu Ende. Der erste Tag in Jamel darf als absolut gelungen betrachtet werden.

Tag 2

Den frühen Nachmittag habe ich im Ostseestadion verbracht (kein Kommentar!), von da aus begebe ich mich direkt wieder nach Jamel. Bei meiner Ankunft hat das Programm bereits begonnen, die Chawa Lilith Band lässt es bei großer stilistischer Vielfalt ordentlich grooven.

Nach der kurzen Einlage einer Theatergruppe aus Bielefeld ist dann wieder Hip-Hop angesagt, mit Sookee darf ich erneut meinen musikalischen Horizont erweitern. Mit sehr direkten Texten bezieht die Berlinerin Position gegen Rassismus, Sexismus und Homophobie, und das sehr unterhaltsam.

Bei der Ankündigung des nächsten Künstlers wiederholt der Moderator noch einmal wörtlich seinen Gag vom Vortag, an Stelle von Bela B. tritt nun Wolf Maahn, ein Urgestein der deutschen Singer/Songwriter-Szene, engagiert in Friedens- und Umweltbewegung der 80er Jahre. Ich hatte ihn vor einigen Jahren schon mal in einem Akustikkonzert erlebt, ein sehr charismatischer Künstler mit eindringlichen, nachdenklichen Liedern und einer sehr präsenten Bühnenausstrahlung. Vorher spricht Bundesfamilienministerin und Schirmherrin Manuela Schwesig ein kurzes Grußwort und überreicht den Lohmeyers ein kleines Erinnerungsgeschenk.

Das Konzert beginnt, da jetzt eher nicht mit Pogoeinlagen oder Circle Pits zu rechnen ist, traue ich mich mal in die erste Reihe vor der Bühnenmitte, es ist toll, wieviel man da an Kleinigkeiten oder Nebensächlichkeiten mitbekommt, die einem weiter hinten meist entgehen. So werde ich aus nächster Nähe Zeuge eines seltsamen Dialoges zwischen dem Sänger und einem Festivalbesucher.

Wie alle auftretenden Bands gibt natürlich auch Maahn sein Statement zum Anliegen des Festivals und der eigenen Motivation, in Jamel aufzutreten, ab. Dies gerät für meinen Geschmack etwas unglücklich, der Ratschlag, Mecklenburg-Vorpommern (seine Zunge sträubt sich etwas beim Aussprechen) solle ein Platz werden, wo man gern hinfährt, wo die Menschen, auch Ausländer, Urlaub machen. (Unter uns, Wolf, das ist es bereits seit vielen Jahren.) Ein Herr in der ersten Reihe widerspricht ihm lautstark: „Das ist zu einfach.“ Die Antwort wird auf der Bühne gehört, Maahn lädt den Mann ein, sich am Mikrofon zu äußern, dazu kommt es aber glücklicherweise nicht, denn „ein Rockkonzert ist wenig geeignet für solche Diskussionen“, womit der Künstler natürlich recht hat. Immerhin kommen die weiteren Zwischenansagen deutlich weniger plakativ und simplifizierend herüber.

Musikalisch gibt es ohnehin nichts an dem Auftritt auszusetzen. Maahn und seine hervorragende Begleitband liefern ein intensives, atmosphärisch dichtes Konzert mit neuen Stücken und Klassikern wie „Irgendwo in Deutschland“ ab, mein persönliches Highlight wird das zeitlos schöne „Ich wart auf dich“ (1986).

Es folgen die Ohrbooten, eine weitere mir bisher unbekannte Band. Ich verlasse meinen Platz in der ersten Reihe, da es vor der Bühne ab jetzt wieder mehr zur Sache gehen wird. Die Songs kommen beim erneut beeindruckend textsicheren Publikum sehr gut an, das Stimmungsbarometer steigt unaufhörlich.

Das ist auch gut so, denn jetzt ist ZSK an der Reihe. Die Band steht mit ihrer Musik und weiteren Projekten kompromisslos und engagiert in vorderster Reihe gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus und verkörpert perfekt das Anliegen des Festivals. Laut und mit viel Energie wird eine Stunde lang und ohne Unterbrechung auf und vor der Bühne durchgedreht. Sänger Joshi versprüht einen ungeheuren Bewegungsdrang, mehrfach sucht er den direkten Kontakt unten im Publikum, sogar ein Bühnenmast wird von ihm erklommen, eine überaus actionreiche Darbietung, ein Feuerwerk, nur ohne Raketen.

Zum Abschluss spielen Tequila & The Sunrise Gang, zum vierten Mal in Folge dabei und inzwischen schon eine Art Hausband, und sorgen für ein stimmungsvolles Finale. Zwei tolle Tage beim derzeit wichtigsten Festival in Deutschland (O-Ton Bela B.) sind zu Ende. Es gilt, danke zu sagen an die Veranstalter, Birgit und Horst Lohmeyer, und ihre zahlreichen Helfer für die sehr gute Organisation, für ein sehr abwechslungsreiches Programm und damit verbunden eine legendäre Party.

Die nunmehr zehnjährige Geschichte des Forstrocks ist ein Meilenstein und liegt der „Zielgruppe“ offenbar schwer im Magen, wie die „wohlwollenden“ Kommentare in sozialen Medien oder bei den Online-Berichten der regionalen Presse deutlich zeigen. Der Stachel sitzt sehr tief im Fleisch der „besorgten Bürger“. Gut so und weiter so – oder, um es mit den Worten meiner „Neuentdeckung“ Madsen zu sagen:

Lasst die Musik an!

Presse

NDR: Festival gegen rechts: Die Ärzte als Höhepunkt

Störungsmelder (Zeit online): Schrei nach Liebe in Jamel

Schweriner Volkszeitung: Schrei nach Liebe an der Frontlinie

 

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