Nopperhof FestEvil 2016, 29./30. Juli 2016, Langen Trechow
Sonntagmorgen, kurz vor halb drei verklingen die letzten Live-Töne beim diesjährigen FestEvil auf dem Nopperhof in Langen Trechow. Auf der Bühne verabschiedet sich FestEvil-Dauerbrenner Zaunpfahl vom begeisterten Publikum. Geschätzte 200 Leute haben der inzwischen einsetzenden Nachtkühle bis zum Schluss getrotzt, die Gänsehaut kommt nicht nur von den Temperaturen. Zwei ereignisreiche Tage voller Musik beim Familientreffen der Freunde des RoggenRoll sind schon wieder vorbei, man mag es nicht glauben.
Aus den Boxen kommen ganz ungewöhnliche Klänge, die bei einem Festival dieser Art wohl niemand erwartet hätte: „Supper’s ready“ vom 1972er Genesis-Album „Foxtrot“ bildet einen bizarren Kontrast zur Musik der letzten beiden Tage und entkräftet zugleich den Verdacht, die Tontechnik hätte für das ganze Wochenende nur eine CD der Klaus-Renft-Combo für die „Umbaupausen-Musik“ dabei gehabt. Die monumentale Melancholie des Genesis-Klassikers legt sich über das Gelände vor der Bühne und hilft tatsächlich beim „Runterfahren“ und Rekapitulieren der letzten 34 Stunden.
Ich treffe am Freitag gegen 17 Uhr am Nopperhof ein, der Campingbereich ist schon recht ordentlich gefüllt, es sind erkennbar mehr Leute gekommen als im letzten Jahr. Ich finde einen freien Platz im Reich der Ropiraten und schlage mein Zelt auf. Okay, das Zelt bleibt in seiner Verpackung, ich begnüge mich damit, meinen Honda in den Festivalmodus zu versetzen: Rückbank nach vorn klappen, Matratze und ein paar Decken ausbreiten – fertig! Wie man dem Gefährt(en) von außen kaum ansieht, kann ich bei diagonaler Lage sogar abwechselnd die Beine ausstrecken. Hammer weißt?!
Ein, zwei Bierchen und Begrüßung der üblichen Verdächtigen lassen schon wieder kostbare Zeit von der Uhr laufen und so kommt es, dass ich die erste Band des Abends nur aus der Ferne höre (immerhin schon ein Fortschritt zum sonstigen Procedere) – Wrong Way Ticket. An zweiter Stelle tritt Protection of Hate auf, die für die verletzungsbedingt ausgefallenen Bloodpunch eingesprungen sind.
Smoking Hut on Stones setzen einen ersten emotionalen Höhepunkt. Die Band musste Anfang des Jahres, das neue Album „Life goes by“ war gerade erschienen, einen schweren Schicksalsschlag hinnehmen, verlor mit Frank ihren Schlagzeuger und einen guten Freund. Es ist die Kraft der Musik, ihrer Musik, die sie nun, knapp sieben Monate später wieder auf der Bühne stehen lässt. Wie schon im Vorjahr liefern die „Huts“ einen kraftvollen, mitreißenden Auftritt, ich bin mir sicher, dass die Vibrationen auch bei Frank angekommen sind, wo immer er jetzt sein mag. Mit Kai hat die Band einen würdigen Nachfolger ausgewählt.
Ein Geburtstagskind dieses Jahres bestreitet die nächste Stunde auf der Bühne. Mainpoint, 20 Jahre jung, lassen sich vom strahlend hellen Sonnenschein, der nicht so ganz zur Musik passen will, nicht beirren, und überzeugen mit gewohnt gewaltigen Klängen. Dank des inspirierenden Auftrittes der Ölmützen als Opener hat es die Band leicht, das Publikum liegt ihr buchstäblich zu Füßen.
Die Skeptiker (ebenfalls im Jubiläumsjahr, Glückwunsch zum 30.) sind dann erwartetes Highlight des ersten Tages. Ein mitreißender, energiegeladener Auftritt lässt den Adrenalinspiegel auf und vor der Bühne ordentlich in die Höhe schießen. Selbst meine alten Knochen kommen nicht umhin, sich rhythmischer Bewegung hinzugeben.
In der Umbaupause vor dem Tagesfinale erobert musikalischer Nachwuchs aus dem Hause Nopper/Krause die Bühne: Pauline trägt ein paar Songs mit eigener Gitarrenbegleitung vor, gegen ihre tolle Stimme und Ausstrahlung hat das Publikum keine Chance, der gemeinsame Gesang des Cranberries-Klassikers „Zombie“ birgt einen hohen Gänsehautfaktor, bevor mit Tanzwut der Abend dem neuen Morgen weicht.
Der Sonnabend beginnt mit einem wunderbaren Frühstück im Freien, liebevoll vorbereitet von den Frauen der örtlichen Volkssolidarität, denen ich hier mal ein Riesen-Dankeschön übermitteln möchte. Überhaupt kann man allen Helfern beim FestEvil gar nicht genug dafür danken, dass sie mit großem, ehrenamtlichem Einsatz allen Gästen ein unvergessliches Wochenende bereitet haben, und das zu überaus fairen Preisen – vom Eintritt über Speisen und Getränke bis zur kostenlosen Camping-Möglichkeit. Nochmals herzlichen Dank an Nico und Sylvia als Veranstalter und ihre vielen Unterstützer!
Der Vormittag gehört einem Fußballturnier, bei dem phasenweise ganz großer Sport geboten wird, mein persönlicher Favorit ist das Team „Rostock asozial“, das neben herausragendem fußballerischen Können und künstlerisch wertvollen Bewegungsabläufen vor allem durch konsequente Nichtkommerzialität zu glänzen weiß: Wer braucht schon Trikots, wenn man für das Geld doch auch Bier kaufen kann, welches wiederum so wunderbare Körper zu formen vermag? Für den Turniersieg reicht es trotzdem nicht, den holt sich das Team „Zaunpfahl“, nicht zuletzt dank einer Legende im Tor.
Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, dass das schon der beste Fußball bleiben wird, den ich an diesem Tag zu sehen bekomme. Am Nachmittag finde ich mich mit weiteren Freunden, deren Herzen hanseatisch schlagen, vor einem Fernseher ein, auf dem die Übertragung des Ligaauftaktes unseres FCH in Regensburg zu sehen ist. Um wie sonst, zwischendurch schnell zum Spiel zu fahren, ist Regensburg einfach zu weit, Spielverlauf und –ergebnis halten später den Kummer, nicht im Stadion dabei sein zu können, doch in Grenzen. Aber davon mal abgesehen: Eine Fußballübertragung mitten auf dem Acker, nicht in HD, aber immerhin digital und in Farbe, ist schon ein bisschen dekadent, oder?
Nach Spielschluss geht es wieder zum FestEvil-Gelände, um 16 Uhr beginnt Tag 2. Das Line-up ist vielfältig und abwechslungsreich zusammengestellt, sage und schreibe acht Bands werden auftreten. Den hochkarätigen Anfang macht Vietsmorgen, immerhin die beste Band, die keiner kennt, auch wenn die begeistert mitgehende Menge vor der Bühne eher für das Gegenteil (also des Nichtkennens) spricht. Es folgen die Rostdocs, die nicht nur musikalisch, sondern auch modetechnisch Glanzlichter zu setzen wissen: Richie im „BOSS“-Shirt – Kommentar seiner Bandkollegen: „So sieht der aus, wenn man ihn seine Klamotten allein kaufen lässt.“
Gute alte Bekannte setzen das Programm fort: Old-Style-65 aus Berlin knüpft an den tollen Auftritt im Vorjahr an, mit nunmehr zwei Gitarren klingen die Songs noch druckvoller, als sie es ohnehin schon waren. Es gibt die bekannten Klassiker aus Punk und Hardcore und eigene Stücke. Die Liebeserklärung an MeckPomm „Hoher Norden“ wird (O-Ton Ulli) „gründlich verkackt“, aber das stört niemanden, schließlich sind wir immer noch beim Punk.
Mit Scherbe Kontra Bass wird es etwas ruhiger, die mit Gesang, Gitarre und Kontrabass vorgetragenen Scherben-Songs, oder – wie sie selbst sagen -„Klassiker des Revolutionsschlagers“ gehen unter die Haut und ins Herz. Wer mal die Gelegenheit hat, sie zu sehen – unbedingt hingehen.
Die Freygang Band tritt in verkleinerter Besetzung an, da Tatjana nach einem Arbeitsunfall nicht auftreten kann, was zwar dazu führt, dass das eine oder andere Lied nicht aufgeführt werden kann, insgesamt aber einem überzeugenden Auftritt nicht im Wege steht.
Und dann ist es so weit, es erscheint der Headliner des FestEvils 2016 – Knorkator.
Die Männer um Stumpen und Alf haben sich ein ganz besonderes Bonbon für ihren Auftritt beim FestEvil ausgedacht. Nach überraschend kurzer Umbaupause erleben die erwartungsfrohen Fans als Welturaufführung eine etwa 60-minütige Live-Performance der „Schweigeminute“ vom Album „Ich hasse Musik“. Um maximale Authentizität des Vortrags zu gewährleisten, bleiben die Musiker während des Stückes hinter der Bühne, den neugierigen Blicken des Publikums verborgen.
Das Bühnengeschehen kulminiert mehrfach in nonverbalen Dialogszenen zwischen Buzz Dee und einem abgebrühten Tontechniker, der mit regungslosem Gesicht die überzeugend gespielten Wutausbrüche des ungeduldigen Gitarristen über sich ergehen lässt und dabei versucht, den Gesangsmikrophonen ernstzunehmende Töne zu entlocken.
Knorkator geht mit der Schweigeminute ein hohes künstlerisches Risiko ein, immerhin ist ungewiss, ob das Publikum für solch künstlerisches Neuland schon bereit ist. Die FestEvil-Besucher meistern diese Herausforderung mit Bravour, der Refrain „Alf! Alf! Alf, Alf, Alf!“ wird sogar begeistert mitgesungen – ein schöner Lohn für den künstlerischen Mut der Band.
Nun gut, das alles ist natürlich kompletter Unsinn. Tatsächlich gibt es beim Umbau technische Probleme, deren Art und Umfang man von unten kaum erahnen kann. Den Beteiligten wird in diesen Minuten kaum zu Witzen zumute sein, dennoch verliert keiner der Techniker auch nur eine Sekunde die Fassung, sondern arbeitet konzentriert daran, einen etwaigen Fehler zu finden und zu beheben. Auch vor der Bühne werden keine Unmutsäußerungen laut, man vertreibt sich die Zeit auf unterschiedliche Weise: Links vor mir werden Trinklieder zum Besten gegeben, andere „unterstützen“ den Soundcheck, aber alle fassen sich in außerordentlicher Geduld.
Mit gut 90 Minuten Verspätung erscheint die Band dann auf der Bühne, in wenigen Sätzen dankt Stumpen allen für ihre Geduld, es gibt erst mal jede Menge Applaus für Techniker und Veranstalter und dann beginnt ein Konzert der Superlative mit dem einzig passenden Song, der jeden noch so leisen Ansatz von Ärger herausschreit und zugleich alle innerhalb von vier Minuten auf Betriebstemperatur bringt: „Ding inne Schnauze“. Das ist befreiend und tut allen gut.
Knorkator bringt im Weiteren einen bunten Strauß bekannter und schöner Melodien mit besinnlichen Texten zu Gehör, die Musiker haben ganz offenkundig großen Spaß an ihrem Tun. Stumpen prangert schonungslos jeden falsch gespielten oder gesungenen Ton an und schreckt auch nicht davor zurück, verpasste Einsätze an Bass oder Gitarre unverzüglich abzustrafen. Zu „Böse“ darf Alfs Sohn Tim Tom auf die Bühne kommen, der Junge hat eine unglaubliche Röhre und muss sich gesanglich vor seinem Vater wahrlich nicht verstecken. Stumpens Lob und ein joviales „Nun verpiss dich!“ sind eine schöne Anerkennung für ein echtes Kind dieser Band.
Die Zeit vergeht wie im Fluge, es werden fast alle Songs gespielt, die ich mir vorher auf einer imaginären Wunschliste notiert habe: „Buchstabe“, „Mich verfolgt meine eigene Scheiße“, „Alter Mann“, „Es kotzt mich an“, „Ich hasse Musik“ oder die unvermeidlichen Coversongs „Ma Baker“, „All that she wants“ und „Geh zu ihr“. Nur auf „Weg nach unten“ warte ich vergebens, aber irgendwas ist ja immer.
Das nächste Album „Ich bin der Boss“ erscheint im Herbst, die zugehörige Tour wird Deutschlands meiste Band der Welt natürlich auch nach Rostock führen, 24. März 2017 im Moya. Nichts wie hin da!
Umbau und Soundcheck für die beiden letzten Bands geschehen im Anschluss in Rekordgeschwindigkeit, inzwischen sitzt die Zeit allen im Nacken, denn nur bis 2 Uhr ist von amtlicher Seite aus Krach erlaubt. Trotz der inzwischen eingesetzten nächtlichen Kühle halten noch viele Fans vor der Bühne durch, um auch Maulers Boutique und Zaunpfahl zu lauschen. Über allen schwebt die alles entscheidende Frage, auf die es auch dieses Mal keine befriedigende Antwort gibt:
Warum sind schöne Tage so schnell um?
Ich wiederhole mich jetzt, das aber außerordentlich gern: Vielen Dank an die Veranstalter, Organisatoren und Helfer des aus meiner Sicht schönsten Festivals in Mecklenburg-Vorpommern, dem sich sogar das Wetter anpasst. Danke auch an die Besucher für eine entspannte, familiäre Atmosphäre fast ohne jeden Ansatz von Stress*.
Bis zum nächsten Jahr!
*Im Schutz der Dunkelheit eine einsame, harmlose Fußballfahne, die sich nicht wehren kann, von einem Wohnwagen zu klauen, ist echt armselig, aber wer sonst nichts hat …