Hanseator

Musik, Fußball und manchmal auch ein bisschen Hansa

In Lotte im Eimer

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Sportfreunde Lotte – F.C. Hansa Rostock 2:0, „FRIMO Stadion“, 11. März 2017

Eins muss man der dritten Liga lassen, den reiselustigen Fan führt sie an Orte, die zu besuchen ihm normalerweise nicht mal im Traum in den Sinn käme. Nun hat es wieder einmal ein Verein mit ländlichem Umfeld geschafft, sich dem illustren Kreis professioneller Klubs anzuschließen und diesen in Teilen regelmäßig aufzumischen. Und so war am vergangenen Wochenende der Tag gekommen, an dem unser F.C. Hansa sein erstes Pflichtspiel im niedersächsisch/nordrhein-westfälischen Niemandsland austragen sollte.

Spielverlegungen am laufenden Band und Terminchaos konnten zahlreiche Hanseaten nicht von der Reise nach Lotte abhalten, überall im Hansaland wurden Bustouren wie zu besten Bundesligazeiten organisiert. Aufgrund eigener kultureller Verpflichtungen konnte ich mich dem Massentourismus nicht anschließen, meine individuelle Reiseroute hielt musikalische Abendveranstaltungen vor und nach dem Spiel in Berlin bzw. Hamburg bereit.

Den Wochenendauftakt untermalen die Broilers in der Berliner Max-Schmeling-Halle. Mein Randberliner Freund Thommy gewährt mir großzügigerweise Obdach, voller Dankbarkeit dafür verzichte ich schweren Herzens auf die dem Vernehmen nach sehr gute Supportband „Tiger Army“ und begleite meinen Gastgeber zum gemeinschaftlichen Fernsehempfang des Zweitliga-Spitzenspiels zwischen dem FC St. Pauli und dem 1. FC Union Berlin. Die Lokalität namens Sportslounge befindet sich an der Straßenecke Milastraße/Cantianstraße. Na, bei wem klingelt‘s? Richtig – auf der anderen Straßenseite, ein paar hundert Meter weiter befindet sich der Jahnsportpark, Heimstätte des einst unaussprechlichsten Fußballclubs „unserer Republik“.

Union entscheidet das Spiel für sich, es ist ein Riesenspaß, den eisernen Fans dabei zuzusehen, wie die panische Angst vor dem Aufstieg immer greifbarer wird: „So ‘ne Scheiße, wir steigen auf!“ ist das Lied des Tages, das immer wieder erklingt. Ich versuche mir vorzustellen, wie der alte Mielke wohl glotzen würde: Direkt vor seinem Lieblingsspielplatz treffen sich die Leute, um im Westfernsehen „dem anderen Berliner Verein“ bei seinem Weg in die Bundesliga zuzusehen. Was für Zeiten!

Die Broilers liefern solide ab, sie waren und bleiben eine exzellente Liveband – egal, wie „mainstreamig“ die neueren Alben nun für den einen oder anderen sein mögen oder nicht. Große Überraschungen gibt es bei ihren Konzerten nicht, das tut der euphorischen Stimmung aber keinen Abbruch. So vergeht die Zeit dann doch recht schnell, kaum dass man seinen Platz im Innenraum gefunden hat, ist es auch schon wieder vorbei.

Auf der Rückfahrt zum Nachtquartier mit der S-Bahn legen wir noch einen unfreiwillig längeren Umsteigeaufenthalt in Adlershof ein. Der empfindlich kühle Abendwind macht das Warten auf den nächsten Zug nicht unbedingt angenehmer, aber wenigstens sparen wir uns den anstrengenden Wechsel auf einen anderen Bahnsteig. Vielleicht hätten wir aber auch einfach nur die Umsteigeempfehlung der DB-App ein paar Stationen vorher befolgen sollen. So wird es eine sehr kurze Nachtruhe.

Halb zwei liege ich im Bett, schon um sieben Uhr reißt mich der Wecker unsanft aus allen Träumen. Ich schleiche mich auf leisen Sohlen aus meinem Refugium und trete frisch und mun… – streichen wir das, ich trete die Reise ins Ungewisse an. Unterwegs denke ich nach, was in Lotte wohl zuerst da war: das Autobahnkreuz oder der erste Bauernhof. Wahrscheinlich lässt sich die Besiedlung sogar bis in die Römerzeit zurückverfolgen, wenn man nur tief genug gräbt.

Nach knapp vier Stunden Fahrt, voll mit derart wirren Gedanken erreiche ich Lotte. Eine unbefestigte Straße führt vom Ortszentrum in Richtung des Stadions, nach Entrichtung der Gebühr in Höhe von 3 Euro weisen mir Ordner den weiteren Weg. In die Rolle des Gästeparkplatzes schlüpft bei jedem Heimspiel der Sportfreunde ein Bauernhof, bestehend aus einem Wohnhaus und mehreren Funktionsgebäuden und den angrenzenden Wiesen. Rechtzeitiges Erscheinen sichert eine befestigte Stellfläche, da hat sich das frühe Aufstehen schon mal gelohnt und ich bin überaus erleichtert, dass mein neuer Flitzer auf seiner Jungfernfahrt nicht im Schlamm eines mutmaßlich von den Niederschlägen der letzten Wochen durchweichten Ackers auf mich warten muss.

Ich habe nun jede Menge Zeit, die Ankunft weiterer Hanseaten in der ländlichen Idylle zu verfolgen. Alle Neuankömmlinge zeigen die gleiche Reaktion: weit aufgerissene Augen, ungläubiges Staunen und heitere, nahezu kindliche Begeisterung so wie damals, bei den Wochenendausflügen, wenn Mama und Papa bei der Fahrt in den Freizeitpark den Stadtkindern gezeigt haben, wo die Milch herkommt. Hunderte Fotos gehen in diesen Minuten auf die Reise um die Welt, um die Daheimgebliebenen an diesem Ereignis teilhaben zu lassen. Die Begeisterung über diese anheimelnde Szenerie ist so ansteckend, dass sogar bekennende Ultras vor Rührung vergessen böse zu gucken. Die Parkordner quittieren die Euphorie der Besucher mit professioneller Routine: „Alle zwei Wochen dasselbe.“

Während ich zusehe, wie immer mehr Fahrzeuge eintreffen und nun auch die Wiesen befahren, die nicht ganz so schlimm versumpft sind wie befürchtet, komme ich mit einem der Ordner ins Gespräch, einem gebürtigen Italiener aus Marl, der sich noch an die Bundesligazeiten mit Hansa erinnert. „Marl? Da kam mal ein früherer Torwart von uns her, Mathias Schober.“ „Ja, den kenne ich, der kommt öfter in unsere Pizzeria in Marl.“ Dann arbeitet der Mann ein altes Trauma auf: „Hat er damals in Hamburg den Rückpass absichtlich mit der Hand aufgenommen?“ Wir glauben es ja beide nicht, aber ich empfehle ihm, beim nächsten Mal in der Pizzeria einfach zu fragen. Das sorgt bestimmt für gute Laune.

Nebenan, auf einer kleinen Pferdekoppel vertreibt sich eine Stute mit ihrem Fohlen die Zeit, äußerlich unbeeindruckt vom bunten Treiben ringsum. Als aber auf dem Zufahrtsweg ein berittener Polizeitrupp erscheint, ist es vorbei mit der Beschaulichkeit. Das Kleine galoppiert in Richtung seiner uniformierten Artgenossen und springt immer wieder von den Vorderbeinen auf die Hinterbeine und zurück. Mama Pferd eilt dem Nachwuchs zur Seite und drängt das Junge, das für ein Ackermatch noch viel zu klein ist, sanft vom Zaun weg, ihre Augen scheinen zu sagen: „Leg dich nicht mit denen an. Vor allem aber pass in der Reitschule immer gut auf, dann bleibt dir das da später mal erspart.“

Mir ruft diese Szene ins Gedächtnis, dass ich nicht zur Tierbeobachtung nach Lotte gekommen bin, und so gehe ich langsam hinüber zum Gästeblock, der Eingang ist keine 50 Meter vom Parkplatz entfernt. Die Einlassformalitäten dauern nicht lange, ich suche mir einen Platz in der oberen Reihe auf Höhe der Eckfahne. Auf dem Rasen vertreibt sich Hansatrainer Brand die Zeit mit ein paar Ballübungen und Schüssen auf das leere Tor, Höhepunkt der Show ist ein Heber mit dem linken Fuß aus ungefähr 25 bis 30 Metern Entfernung zum Tor, bei dem der Ball die Lattenunterkante trifft und von da nach unten springt – so ähnlich wie 1966 bei Geoffrey Hurst, nur eben klar hinter der Linie. Das sollte er dringend mal seinen Standardspezialisten vorführen.

Während ich staunend zusehe, breitet sich in mir die traurige Gewissheit aus, dass ich in diesem Moment schon den Höhepunkt hanseatischer Fußballkunst an diesem Tag erlebt habe. Zeit, um mir darüber klar zu werden, habe ich nicht mehr, denn plötzlich bricht mit ohrenbetäubendem Lärm aus einem kaum zwei Meter über mir hängenden Lautsprecher das „Unterhaltungsprogramm“ der Sportfreunde über mich herein, jetzt ist endgültig Schluss mit der ländlichen Idylle. Die Musikauswahl ist zwar ganz brauchbar (einschließlich eines voll ausgespielten „Hansa forever“ – nette Geste) und hin und wieder blitzt sogar eine spezielle Art Humor auf, etwa, wenn der Hinweis auf das verlegte DFB-Pokalspiel benutzt wird, um ein bisschen zu stänkern: „Der BVB kann nun mal nicht auf Schnee spielen.“ Dennoch überwiegt vor allem der Nervfaktor, wenn man größtenteils sein eigenes Wort nicht mehr versteht.

Die ebenso befremdlichen wie offenbar unvermeidlichen Cheerleader-Mädchen „Blue Sparks“ und später im Spielverlauf immer wieder eingestreute Werbung (alles wird von Sponsoren präsentiert: der Spielball, Eckbälle, gelbe und rote Karten und sogar der Beginn der letzten fünf Minuten in jeder Halbzeit) zeigen eines: Hier wurde verstanden, was alles benötigt wird, um den Leuten großen Fußball zu bieten, so wie er im Fernsehen inszeniert wird. Über kurz oder lang wird das „Volle Lotte!“-Geschrei noch so manchem DFL-Verein die Ohren klingen lassen.

Sportlich kann sich durchaus sehen lassen, was in Lotte entstanden ist – die Ergebnisse sprechen eine deutliche Sprache – ganz allgemein, aber auch im Speziellen das Resultat beim Gastspiel unserer Hanseaten, die es nicht schaffen, eine vergleichsweise brauchbare Vorstellung in der ersten Halbzeit in Tore umzumünzen, und dann nach der Pause überhaupt nichts Gescheites mehr zustande bringen. So gesehen, hat mich meine böse Ahnung angesichts der Brandschen Rastelli-Show vor dem Spiel leider nicht betrogen.

Beim Verlassen des Gästeblockes wird der Ausgang durch den oben erwähnten Reitertrupp verstellt, die riesigen Hinterteile der Tiere haben eine beunruhigende Ausstrahlung, aber noch beängstigender ist, dass der Raum zum Vorbeigehen für die Fans äußerst begrenzt ist – praktisch in Trittweite. Ich weiß nicht, ob das bei so nervösen Geschöpfen zweckmäßig ist, von den Pferden ganz zu schweigen. Nichts wie weg hier.

Am Abend steht eine Geburtstagsfeier in Hamburg auf dem Programm. Band, Geburtstagsgäste und Veranstaltungsort sorgen für eine interessante Mischung, die sicher dem einen oder anderen Einsatzleiter bei einer Sportveranstaltung eine Reihe schlafloser Nächte verschafft hätte, nicht zu reden von Auflagen für die Veranstalter. So aber wird es ein überaus stimmungsvoller Abend, der seinen musikalischen Höhepunkt erreicht, als die Rostdocs ihr „Ostseestadion“-Lied zu Gehör bringen – mitten auf dem Kiez. JETZT kann auch ich meinen Frieden mit einem fußballerisch so öden Tag machen. Beim gemeinsamen exzessiven Verzehr des namensstiftenden Getränkes mit den „Eierlikör Ultras“ des 1. FC Union schließt sich dann auch der Kreis zum Auftakt eines irgendwie doch noch gelungenen Wochenendes. Wenn doch diese verdammten Spiele nicht wären …

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