Sonntag, 13:42 Uhr, eben ist das erste Tor für den FC St. Pauli gefallen. Ringsum liegen sich Menschen in den Armen, meinem Freund „Brille“ hängen zwei Leute am Hals, einer hebt die Hand, um mit mir abzuklatschen. Wie komme ich hierher? Was, zum Teufel, mache ich hier?! Mach bitte einer, dass das sofort aufhört!
Nun, zur Beruhigung, ich bin sonst nie da. Frühzeitig, lange vor dem Wirbel um die Untersagungsverfügung der Hamburger Polizei, hatte ich mich entschlossen, das Spiel unseres FC Hansa beim FC St. Pauli auf jeden Fall außerhalb des Gästeblockes zu verfolgen. Ein nicht unwichtiger Grund dafür war, dass ich keinen Bedarf verspürte, mich im Polizeikessel am Gästeeingang wieder zwischen kaltem Wasser und Holzknüppel entscheiden zu müssen, wenn es den uniformierten Schlägern vorn am Einlass zu schnell geht und den Wasserwerferkapitänen hinten zu lange dauert, so wie damals, am 6. März 2009, als ich zum bislang letzten Mal am Millerntor weilte.
Wenige Monate später hatte ich dann bei einem Fanturnier einen St. Pauli-Anhänger in meinem Alter (nennen wir ihn „Paulchen“) kennen gelernt, der beim Turnier sogar half, unsere arg ersatzgeschwächte Mannschaft personell zu verstärken. Bei dem einen oder anderen Bier konnten wir feststellen, dass wir in Bezug auf Fußball und Fansein gar nicht so unterschiedlich tickten, und so verabredeten wir uns damals zu gegenseitigen Besuchen bei Spielen unserer beiden Mannschaften gegeneinander, einschließlich des gemeinsamen Anschauens im Stadion.
Dazu war es bisher aus verschiedenen Gründen nicht gekommen, aber diesmal hatte es „Paulchen“ geschafft, mir eine Eintrittskarte zum Spiel zu besorgen. Leider machten ihm nun aber kurzfristige berufliche Verpflichtungen einen erneuten Strich durch die Rechnung – dennoch überließ er mir seine lebenslange Dauerkarte, so dass ich die Gelegenheit haben sollte, das sagenumwobene Wesen „St. Pauli-Fan“ mal mit eigenen Augen in seiner natürlichen Umgebung zu beobachten.
Meine bisherigen Erfahrungen diesbezüglich stammten neben oberflächlichen, bei den Spielen gesammelten Ferneindrücken größtenteils aus einschlägigen Medien, wobei sich natürlich Krawallpresse a la Springer verbietet. Bleiben die aufgeregten „Insiderschilderungen“ im Internet und die Diskussionen in diversen Foren, wo sich Experten aller Schattierungen im Schutz vermeintlicher Anonymität gegenseitig und übereinander die Taschen voll hauen.
Eine wichtige, im Vorfeld zu klärende Frage war die der angemessenen Bekleidung. „Paulchen“ hatte seinerzeit gesagt, da wo er steht, kann ich mich ruhig offen zum Gastverein bekennen – sogar zu Hansa. Aber dies hielt ich nun, aufgrund der aktuellen Entwicklungen, eher für kontraproduktiv.
St. Pauli-Klamotten? Niemals, nicht mal als Tarnung würde ich das übers Herz bringen. Außerdem wollte ich nicht aussehen wie einer dieser Modefans, die zu ihrer Eintrittskarte gekommen sind wie die Jungfrau zum Kinde und vor dem Spiel eilig noch einen Großeinkauf im Fanshop getätigt haben, um bei den „echten“ Fans gut dazustehen. Und ehrlich gesagt kann ich mir für mein schwer verdientes Geld bessere Verwendungsmöglichkeiten vorstellen, als es den reichen Hamburger Pfeffersäcken in den Rachen zu werfen.
Irgendwas mit allgemeinem Fußballbezug? Das provoziert nur neugierige Fragen: Wo kommst du denn her? Für wen bist du denn heute? Bist du Hopper? Und schon hat man ein Gespräch an der Backe, wo ich doch hauptsächlich zum Beobachten da bin. Ich könnte auch normale Alltagskleidung tragen, aber das sieht irgendwie spießig und im Zweifelsfall fast schon nach „Bulle“ aus, da erfreut man sich bekanntlich in Rostock und Hamburg gleicher Beliebtheit.
Nach gründlicher Prüfung musste ich also feststellen: Ich habe nichts Gescheites zum Anziehen in meinem Kleiderschrank. So geht es also Milliarden Frauen in aller Welt. Kein Wunder, ich sollte ja damals eigentlich auch ein Mädchen werden. Ich hoffe, das klingt jetzt nicht zu sexistisch?
Da, wie schon erwähnt, der gemeinsame Stadionbesuch mit „Paulchen“ entfiel, hatte dieser mich vor dem Spiel dann doch gebeten, „komplett neutral“ gekleidet zu erscheinen. Sollte es etwa auch auf der „guten Seite“ Menschen oder Situationen geben, für die ich vorher die schriftliche Zustimmung meiner Krankenkasse benötige? Ach, Quatsch, schließlich habe ich auch 15 Jahre DDR-Oberliga überlebt. Also Schluss mit dem Gejammere, es ist doch immer noch Fußball. Nun, die Witterung – für diese Uhrzeit viel zu kühl und feucht – ließ mich dann auf den guten alten Windbreaker zurückgreifen, nicht zuletzt aus praktischen Gründen, schließlich waren auch noch größere Mengen „Wasser auf Rädern“ zu erwarten.
Zum Auftakt des Wochenendes galt es erst mal, selbst ein bisschen aktiv zu werden und so wurde mit meiner Alte-Herren-Mannschaft schnell beim Benefiz-Turnier der Vorjahrestitel verteidigt, was uns neben unsterblichem Ruhm noch einen Besuch beim Basketball (ALBA) einbrachte. Am Abend baten dann in Rostock die Broilers zum Tanze – eine sehr gediegene Veranstaltung, die auch noch Trainingsmöglichkeiten für den bevorstehenden Stadionbesuch bot. Zum Klange beliebter Weisen aus dem reichhaltigen Repertoire rheinländischen Volkskunstschaffens konnte man sich mal so richtig in Stimmung bringen. Nach dem Konzert ging es dann auf direktem Wege nach Hamburg-Harburg, wo ich bei guten Freunden in den Genuss von Bed & Breakfast kam (Vielen Dank nochmal!) und somit ausgeruht und erfrischt den Weg ins Gefahrengebiet antreten konnte.
Die Anreise per S-Bahn verlief unspektakulär. Kaum hatte ich einen Fuß in den Waggon gesetzt, klang es von links: „Ohne St. Pauli wär’ hier gar nichts los …“. Das fing ja gut an. Ein kurzer Check aus den Augenwinkeln unter Vermeidung direkten Blickkontaktes brachte aber sofortige Entwarnung, das waren harmlose, kuttige Freunde des Alkohols, bei denen man nur aufpassen muss, dass sie einem nicht das Ohr abkauen, wenn sie sich erst mal fest gelabert haben. Haben wir bei uns auch, dagegen hilft nur ausreichender Abstand.
Von der S-Bahnstation Reeperbahn aus ging es dann auf direktem Wege Richtung Budapester Straße, vorbei an kleinen Grüppchen sehr warm angezogener Gesetzeshüter, die jedoch vor dem Spiel betont unaufgeregt einfach so herumstanden, präsent, aber ohne sich übermäßig wichtig zu machen. In den umliegenden Kneipen des Viertels taten die Leute derweil das, was sie am besten können, nämlich Bier trinken. Es lag bei weitem nicht so eine explosive Spannung in der Luft, wie ich sie 2009 auf der anderen Seite des Stadions, an der Feldstraße erlebt hatte.
Da die Stadiontore noch nicht geöffnet waren, nutzte ich die Zeit, um mich ein bisschen unter die sich auf dem Südtribünenvorplatz sammelnden Protestanten in Braun-Weiß zu mischen. Auch hier war die Atmosphäre sehr entspannt, mit der größten Selbstverständlichkeit wurde alkoholhaltiges Bier ausgeschenkt und sogar in Flaschen verkauft. Rostocker Polizei, das ist jetzt euer persönlicher Zaunpfahl!
Nach dem Aufwerten „meiner“ Mitgliederdauerkarte traf ich dann auch die ersten bekannten Gesichter – Hansafans aus Güstrow tranken vor der großen Anschauungstafel, wo das Kultige am Kultclub erklärt wird, Flaschenbier und zeigten anderen umherirrenden Rostockern den Weg zur Kasse, an der es noch frei verkäufliche Karten für das Spiel gab. Es wurde ein wenig gefachsimpelt, ob der bevorstehende Auswärtssieg unsere Chancen auf den direkten Klassenerhalt stärken würde, was letztlich das Beste wäre, denn für Relegationsspiele haben wir eigentlich gar keine Zeit.
Auf dem Wege zum Eingang schnell noch ein Foto vom Mannschaftsbus (Super Spruch übrigens: „Mannschaft mit Biss“) gemacht, einen weiteren lustigen Hansafan begrüßt, der unterwegs zur Haupttribüne war, und dann stand ich vor dem Eingang zur Gegengerade, einem wunderbar altmodischen Relikt vergangener, besserer Fußballzeiten, wie es sie in Deutschlands Ligen immer weniger gibt. Es ist schon ein besonderes Erlebnis, auf einer solchen Stehplatzgeraden Fußball zu genießen und Atmosphäre zu spüren. Mit dem, was heutzutage als „Stadionkomfort“ bezeichnet wird, hat das nur sehr wenig zu tun, aber für Fußballromantiker der alten Schule wird die Zelebration des Stadionbesuches auf einer solchen Tribüne wohl immer die einzig angemessene Möglichkeit bleiben. Wünschen wir dem FC St. Pauli eine glückliche Hand bei der Neugestaltung dieses Stadionbereiches.
So, genug geschwärmt, es ist immer noch „Hassderby“! Zunächst hieß es, einen vernünftigen Platz zu suchen. „Paulchen“ hatte mir empfohlen, mich in Richtung Nordtribüne zu orientieren: „Dort sind die Leute entspannter und du bist dichter am Gästeblock.“ Insgesamt sollte er Recht behalten. Ich richtete mich direkt am Zaun zwischen Gegengerade und Nordtribüne ein, mein Freund „Brille“ stieß kurze Zeit später zu mir und gemeinsam harrten wir bei einem gemeinsamen Becher Cola der Dinge, die da kommen sollten.
Der Block füllte sich schnell und bald bildeten wir eine kleine, nicht-braune Insel inmitten dicht gedrängt stehender Hamburger, von denen sich der überwiegende Teil auch wirklich für das Spiel interessierte und sogar sporadisch am Support beteiligte. Die Atmosphäre war da insgesamt sehr friedfertig und, betrachtet man die Vorgeschichte und das generelle Verhältnis zwischen beiden Vereinen, seltsam unaufgeregt. Ich denke, das lag zum Teil am Fehlen eines zahlenmäßig nennenswerten und vor allem hörbaren Gästeanhangs, denn ins Leere pöbelt es sich nun mal schlecht.
Ansonsten kann man auf der Gegengeraden durchschnittliches Fußballpublikum wie in vielen anderen Stadien auch antreffen – Kutten und Prolls, Familien mit Kindern und Freunde des Alkohols, Introvertierte und Paaadie-Boys. Die berühmten „Banker neben Punkern“ habe ich nicht angetroffen, aber mit einer kleinen sozialpädagogischen Selbsthilfegruppe, die sehr intensiv darüber debattierte, wie man, wenn schon nicht die Welt, dann doch wenigstens das völlig verdorbene Rostock irgendwie noch retten könne, und sich dabei auch vom Spiel nur selten ablenken ließ, wurde zumindest ein Klischee bedient.
Um unsere Tarnung nicht auffliegen zu lassen, haben „Brille“ und ich sogar fleißig zum Gelingen des Heimsupports beigetragen, indem wir den durch den Block wandernden Tapeten beim Überwinden des Zaunes halfen. Gott, wenn das jemand gesehen hätte! Aber so kam wenigstens niemand auf die Idee, uns bei den Toren nach den Gründen unserer gebremsten Euphorie zu fragen.
Das Spiel wurde ja am Ende eine klare Angelegenheit, mehr dazu findet ihr in meinem „offiziellen“ Bericht bei hansafans.de. Zur Halbzeit hatte ich mir noch überlegt, nach Spielschluss den nach dem bisherigen Verlauf nicht völlig unmöglichen Punktgewinn schalwedelnd auf dem Zaun zu feiern, aber das wusste die Mannschaft mit ihrem Auftritt in Hälfte 2 gekonnt zu verhindern. Diese Gelegenheit wird sich wohl auch nicht so schnell wieder ergeben – ebenso wie ein nach dem Spiel in guter Wurfweite herumposender Deniz Naki. Wo ist ein Becher, wenn man mal einen braucht? – Kleiner Scherz am Rande, ich bin ausgewiesener Pazifist, also wurde die Faust in der Tasche geballt und „Nakis raus!“ gedacht.
Nach dem Schlusspfiff gab es übrigens von großen Teilen des Publikums Beifall für die Hansaspieler, die kurz zum Gästeblock gekommen waren – eine honorige Geste, die man sich bei so einem Ergebnis auch durchaus leisten kann, die ich so in Deutschland aber bisher nur vom ohnehin als kuschelfreudig bekannten Mainzer Publikum kannte.
Außerhalb des Stadion war es indes nicht mehr so ruhig und entspannt wie noch vor dem Spiel. Auf meinem Weg zur S-Bahn konnte ich beobachten, wie der grün/blaue Partyservice den Flüssigkeitsnachschub zur Aftershow-Party transportierte, auch ein Räumpanzer war im Einsatz. Mangels persönlicher Eindrücke spare ich mir hier jegliche Wertung, Polizei- und Presseberichte sind grundsätzlich mit Vorsicht zu genießen. Bemerkenswert fand ich die Ausführungen von St. Paulis Sportdirektor Helmut Schulte im abendlichen NDR-Sportclub, der von einigen wenigen Kriminellen sprach, die die Bühne Fußball für ihre Zwecke missbrauchen würden, und dass nicht jeder, bloß weil er ein Totenkopf-Shirt trägt, zum St. Pauli-Fan wird. Offenbar gibt es auch beim Kiezclub die, „die sonst nie da sind“. Ist der FCSP am Ende doch ein Verein wie viele andere, mit Problemen, die auch andere haben?
Unterm Strich bleibt – abgesehen vom für mich traurigen Ergebnis – ein durchaus interessanter Tag auf bislang unbekanntem Terrain. Für ein künftiges hanseatisches Gastspiel am Millerntor wünsche ich mir eine ganz normale Kartenvergabe, so wie es auch beide Vereine handhaben wollten, ich wünsche mir eine stressfreie Anreise ohne Versteckspielchen, dafür aber mit der Möglichkeit, ein gepflegtes Vorspiel-Bierchen – gern auch mit der „anderen Seite“ zu nehmen. Schauen wir mal.
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23. April 2012 um 13:50
sehr gelungener Beitrag! Danke dafür
23. April 2012 um 17:24
Sehr gelungener Beitrag, interessant, das mal aus dieser Perspektive zu lesen.
Was die Demonstrations-Kultur angeht, hat Hansa wohl die drei Punkte ohne Abzug nach Hause geholt.
24. April 2012 um 16:44
Schöner Bericht. Und meine Erfahrungen (als Hanseat) ums Stadion herum und im Stadion sind ziemlich ähnlich. Wir wurden von den Gastgebern im Gästeberreich auch sehr freundlich behandelt, nachdem wir uns erstmal zu erkennen gegeben hatten. Meine Karte hatte ich auch von einem Fan des vermeintlichen Hassgegners, die dieser mir von sich aus angeboten hat.
26. April 2012 um 16:28
Da hat doch jemand eine Erfahrung fürs Leben gemacht.
Hoffe deine Eindrücke vom Millerntor halten bis zum nächsten Aufeinandertreffen vor. Ein gepflegtes Bier vorm Spiel und dann sportliche Rivalität. Damit aber auch genug. Wie würden die Bullen da nur aus ihrem Kampfanzug glotzen?
Ich hoffe ja, dass wenigstens die Geldmittel sich zum Guten wenden bei euch.
26. April 2012 um 16:41
An mir soll es nicht liegen. 😉
Danke für den Kommentar, viel Erfolg in den letzten beiden Spielen.
26. April 2012 um 19:15
Dieser Bericht und auch einige persönliche Begegnungen mit blauweissen Ostseeanwohnern in der Vergangenheit liessen in mir einen furchtbaren Gedanken aufkommen: „Der Hansafan als Individuum, herausgelöst aus seiner Bezugsgruppe und durch eine rosarote Brille betrachtet, könnte durchaus am Tresen neben mir sitzen und mir zuprosten. Ich wäre nicht im Stande, ihn sofort als Bürger Mordors zu identfizieren!“ Ihr habt mir mein Feindbild gestohlen!
Skandal! Ausdserdem fehlt mir in diesem Beitrag etwas Unverzichtbares: Wo Bitte schön bleibt das obligatorische „Scheiss Sankt Pauli!“?
Aus dem Viertel grüsst verwirrt und mit in den Grundfesten erschüttertem Weldbild, ihr Neunzehn Zehn!
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29. April 2012 um 23:24
Ziemlich spät, also jetzt erst, gelesen. Gibt aber auch so viel hier im Netz. Puuh. Aber das hier ist gut. Schöner Bericht.
PS @Neunzehn Zehn: auch wenn es mir schwer fällt, ich will dich nicht enttäuschen, räusper: Scheiss St. Pauli
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