Schottland 2014 – Tag 3
Woran erkennt man den perfekten Reiseleiter? Er braucht nicht viele Worte, um die Truppe zusammenzuhalten. Das ist gerade bei unserer Reisegruppe eine überaus anerkennenswerte Leistung. Die Ansage zum Tagestrip nach Edinburgh vom Vorabend war ebenso knapp wie eindeutig: Zehn Uhr Rezeption. Im Prinzip klappt das auch ganz gut. An Zeit- und Treffpunkt halten sich immerhin knapp zwei Drittel, wenn wir mal 10 Minuten Verspätung noch als pünktlich durchgehen lassen wollen. Der Rest ist schon mal losgegangen, um unterwegs noch zu frühstücken und uns dann entweder entgegenzukommen oder aber an der Strecke eingesammelt zu werden.
Der Weg vom Hostel zur Queen Street Station gestaltet sich so zu einer absurden Abfolge von Finden und Verlieren, wie man sie früher in den Silvesterschwänken des Deutschen Fernsehfunks erleben konnte. Fünfzehn Personen gehen über die Straße, auf der anderen Seite sind es plötzlich wieder drei weniger. Und dennoch werden um 11:30 Uhr alle im richtigen Zug nach Edinburgh sitzen. Thommy hat es einfach drauf!
Auf dem Bahnhof herrscht rege Betriebsamkeit, von Sonntag ist nicht viel zu spüren. Das liegt natürlich auch am massenhaften Zustrom von Fans des Aberdeen FC, die ihre Mannschaft beim Finale des Scottish League Cup im Celtic Park unterstützen wollen. Schon seit dem Vorabend sind dabei rot und weiß die beherrschenden Farben in der Glasgower Innenstadt, vom Gegner mit dem schönen Namen Inverness Caledonian Thistle F.C. sind dagegen nur vereinzelt Anhänger zu sehen. Aber vielleicht halten die sich auch nur an das strikte Gebot der meisten Pubs: „No colours!“
Unserem Beschluss, den Sonntag im Zeichen der Kultur zu verbringen, treu, bewegen wir uns aber entgegen dem Strom in Richtung Bahnsteig. Auf dem Wege dahin kommt es zu einer schweren Sachbeschädigung durch einen sogenannten Anhänger des 1. FC Union Berlin, doch zum Glück bleibt der Aufkleber unentdeckt und der Täter unerkannt.
Die knapp einstündige Zugfahrt nach Edinburgh Waverley (übrigens, extra für Thommy: mit Halt in Falkirk) vergeht wie im Fluge, es werden Grundzüge der Transferstrategie des 1. FC Union erörtert und vom anwesenden Aufsichtsratsmitglied auch gleich abgenickt. Das geht so: Wir werfen irgendeinen Namen in den Raum, und wenn Aufsichtsrat Dirk nicht unverzüglich und überzeugend dementiert (kein „Nein“ heißt übrigens „Ja“), gilt die Verpflichtung als sicher. Wer es also mit den Eisernen hält, sollte sich im nächsten Sommer nicht über seltsame Neuzugänge wundern, das hat alles seine Richtigkeit. Egal, was euch erzählt wird – glaubt es.
Anderes interessantes Thema: Fußballer sollen ja beim Spiel auch ihren Kopf benutzen – sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne. Dass dabei mitunter Nebenwirkungen eintreten, ist nicht neu. Auf diese Weise hat die Branche ja schon eine Menge Giganten des gesprochenen Wortes hervorgebracht, denen leider nie einer gezeigt hat, wie man an einem Mikrofon vorbeigeht. Ungekrönter König in dieser Disziplin für mich ist und bleibt übrigens ein Ehemaliger von unter anderem Stahl Brandenburg und dem VfL Wolfsburg, der mit folgendem Satz das Genre für Ewigkeiten geprägt hat: „Ick hoffe, damit wir heute hier punkten.“
Bei so viel kurzweiliger Unterhaltung haben wir es natürlich geschafft, damit die Zeit wie im Fluge vergeht und da sind wir auch schon in Edinburgh Waverley angekommen. Wir werden mit Sonnenschein begrüßt und beschließen, erst mal zu Fuß den Weg zur Royal Mile zurückzulegen. Die Route führt durch Fleshmarket Close, eine der vielen malerischen Treppengassen, nach oben. So ein Aufstieg kann ganz schön anstrengend sein, wer wüsste das besser als wir Sonnenkinder des Fußballsports. Da trifft es sich gut, dass auf halber Strecke ein Pub gelegen ist, der passenderweise „Halfway House“ heißt. Dieser eigenem Bekunden nach kleinste Pub Edinburghs und außerdem „Pub of the Year 2009“ befindet sich seit dem 18. Jahrhundert an seinem Platz.
Wir sind zwar gerade erst fünf Minuten unterwegs, aber um Dehydrierungsgefahr gar nicht erst entstehen zu lassen, gehen ein paar von uns auf Nummer sicher und steuern zielstrebig den Tresen an. Was wir nicht wissen – im Halfway House bekommt man in genau zwei Fällen kein Bier: Wenn man jünger ist als 25 oder wenn man jünger aussieht als 25. Wenn beides auf einen zutrifft, hat man natürlich schlechte Karten, und so dauert es nicht mal eine Minute, bis unser Lukas wieder draußen steht – not amused, versteht sich. Aber es ist sehr wichtig, dass junge Menschen auch mit Enttäuschungen umzugehen lernen.
Nun – Solidarität ist keine Einbahnstraße, und so setzen wir unseren Weg fort. Auf der Royal Mile angekommen, teilt sich die Gruppe wieder. Einige schauen sich die Edinburgher Altstadt bei der Busrundfahrt an, die wir schon im letzten Jahr hatten. Die anderen gehen weiter Richtung Edinburgh Castle. Die Betonung dabei liegt auf „in Richtung“. Wer schon mal in Edinburgh war, weiß natürlich, welche überaus attraktive Sehenswürdigkeit direkt am Wege liegt.
Unterwegs begegnen wir Elaine Davidson, die einen kleinen Stand aufgebaut hat. Die Dame hält offiziell den Guinness World Record als „Most Pierced Woman“. Ich bin mir nicht sicher, was mir mehr Unbehagen bereitet: Ist es die Vorstellung, wie lange es gedauert hat, die mehr als 9000 (neuntausend!!) Piercings über den Körper zu verteilen? Oder fürchte ich mich einfach nur zu dicht dran zu stehen, wenn plötzlich mal der Blitz einschlägt? Ehrlich gesagt, bin ich vor allem froh, dass nur das gepiercete Gesicht zu „sehen“ ist, eigentlich ist es das auch nicht wirklich. Ich halte also instinktiv Sicherheitsabstand, Thommy dagegen springt kurz als Fotograf für einen Touristen ein, der für ein Selfie mit Elaine wohl zu kurze Arme hat.
Unser Weg führt uns weiter bergauf, am Ende der Straße erhebt sich majestätisch Edinburgh Castle. Schnell werden ein paar Beweisfotos geschossen, dann begeben wir uns ein paar Schritte bergab, zu Haus Nummer 354. In diesem relativ unscheinbaren Gebäude schlägt das Herz eines weltweiten Universums, hier wird das Shaw-Zitat „Whisky is liquid sunshine“ sicht- und greifbar. Ich selbst bin von Hause aus nun nicht der notorische Whisky-Konsument, aber schon ein kurzer Blick in den hauseigenen Shop (ein Wort, das diesem Raum nicht annähernd gerecht wird) offenbart eine gewaltige Faszination für etwas Großes, macht neugierig auf das, was man in der Ausstellung sehen kann.
Lukas ist zunächst nach seiner Disqualifikation im modernen Bierkampf in Sorge, ob hier auch wieder Altersgrenzen gesetzt werden. Dafür besteht jedoch kein Anlass, im Gegenteil – zum Lernen ist man nie zu jung. Und für den Fall der Fälle werden bei der Führung ja auch kindgerecht aufbereitete Inhalte angeboten.
Wir entscheiden uns für die knapp einstündige Silver Tour. Diese beinhaltet eine Reise im Fass durch die Entstehungsgeschichte des Lebenswassers. Das in kleinen Filmen und mit Schaubildern Dargestellte wird an Informationstafeln vertieft, dann nehmen wir an einer kleinen Tafel Platz. Unser Guide Tom stellt hier die schottischen Whisky-Regionen vor und erläutert die typischen Aromen und charakteristischen Merkmale der jeweiligen Whisky-Sorten. Anhand von Geruchsproben kann sich jeder für eine Region entscheiden, aus der es dann eine Kostprobe gibt.
Mit Tom haben wir einen überraschend jungen (jung aussehenden) Begleiter erwischt, es ist gut möglich, dass er im Halfway House Lukas Gesellschaft geleistet hätte. Hier aber führt er die Besucher mit viel Humor und überaus sachkundig und unterhaltsam durch die Ausstellung. Zur Verkostung unserer ausgewählten Whisky-Sorte betreten wir das Allerheiligste: den Ausstellungsraum, in dem die weltweit größte Sammlung von Scotch Whisky – fast 3500 Flaschen – präsentiert wird. Bevor die Gläser endlich geleert werden dürfen, gönnt sich Tom noch einen persönlichen Spaß. Alle werden aufgefordert, einmal am Glas zu riechen, Tom erklärt: „Wenn euch das Aroma zu intensiv ist, lasst beim Riechen den Mund offen.“ Natürlich folgen alle dem Hinweis, darauf riecht Tom ebenfalls mit weit aufgerissenem Mund an seinem leeren Glas und meint: „Ihr solltet euch mal sehen.“ Dem ist nichts hinzuzufügen und nun haben sich alle ihre Kostprobe verdient.
Im Anschluss bleiben wir noch ein Weilchen in der McIntyre Whisky Gallery, wo es noch das eine oder andere Tröpfchen zu probieren gibt. Zusammen mit Lukas gönne ich mir zwei Sorten schottischer Highland-Ales, das ist nun auch der Schlussstrich unter das Thema Halfway House.
Der Nachmittag ist inzwischen fortgeschritten, der Magen erkundigt sich nachdrücklich, ob denn eventuell auch mit etwas festerer Nahrung zu rechnen sei. Somit gehen wir auf die Suche nach einem Restaurant und werden bei „The Filling Station“ fündig. Unsere dortige Kellnerin strahlt einen ziemlich spröden Charme aus, mit dem sie es bei der HO bestimmt weit gebracht hätte – so eine Art Thelma-and-Louise-Verschnitt. Das Essen ist aber trotzdem ziemlich lecker – irgendwas mit Nudeln.
Dann wird es Zeit, langsam den „Heimweg“ anzutreten. Draußen auf der Promenade tritt ein Straßenkünstler auf, der sich auf eine Art „Extrempiercing“ spezialisiert hat: Zunächst befördert er einen etwa zehn Zentimeter langen Zimmermannsnagel mit einem Hammer in seine Nase hinein und spielt dann den Überraschten, dass beim Herausholen nicht etwa Blut daran klebt, sondern eine andere, nasentypische Substanz. Das hat der doch gewusst!
Anschließend legt er sich flach auf den Boden, fixiert ein Nagelbrett auf seinem Bauch und lässt einen jungen Mann aus dem Publikum (ungefähr 75 Kilo) auf das Brett steigen, während ihm ein zweiter Assistent eine brennende Fackel reicht, deren Flamme er in seinem Mund löscht. Komische Hobbies haben die in Schottland, das muss ich schon sagen.
Zurück in Glasgow kämpfen wir uns erneut durch Massen von Fußballfans – Aberdeen hat das Spiel nach Elfmeterschießen gewonnen, dementsprechend gut ist die Stimmung unter den Rot-Weißen. Einige von uns haben Hunger, wir suchen daher ein Restaurant mit dem schönen Namen „Tony Macaroni“ auf, das sich neben äußerst delikaten Speisen dadurch auszeichnet, dass man auf der Toilette nebenbei noch italienisch lernen kann. Wie sagte einst schon Helmut Kohl: „Wichtig ist, was hinten rauskommt.“
Dann geht es zu Waxy’s. Am Einlass zunächst die übliche Ansage: „No colours!“ Wir öffnen kurz die Jacken und haben Glück: Hansa Rostock und Union Berlin werden offenbar nicht mit Fußball assoziiert. Unsere Krabbelgruppe wird allerdings erneut argwöhnisch beäugt:
„How old are you?“ – „21.“ – „Your ID?“
„How old are you?“ – „23.“ – „Your ID?“
„How old are you?“ – „24.“ – „Your ID?“
Thommy mischt sich ein: “46.” – “Your ID?” Das sind ja immerhin auch zwei 23jährige. Thommy hat zwar nur einen Ausweis, wir dürfen aber passieren und lassen uns in einer der Bars nieder. Dort gesellen sich dann etwas später noch ein paar versprengte Inverness-Fans zu uns, sogar mit Schals, die schon schon den ganzen Tag die Finalniederlage verarbeitet haben. Dennoch sind sie stolz auf ihren Verein und empfinden Freude darüber, mit ihrem vergleichsweise „kleinen“ Verein überhaupt dabei gewesen zu sein.
Einer der Jungs offenbart sich als großer Bewunderer von Toni Kroos: „Bayern sucks, but he’s a fantastic player.“ Ich versuche, ihm Tonis fußballerische Herkunft zu vermitteln, glaube aber nicht, dass da etwas hängen geblieben ist. Entweder seine oder meine Zunge ist wohl zu schwer.
Dann müssen die Jungs zu ihrem Zug und auch wir gehen allmählich ins Quartier zurück. Morgen ist St. Patrick’s Day und der Celtic Park wartet auf unseren Besuch. Da ist Kondition gefragt.