Irland – Schweden 1:1, Stade de France, Paris, 13. Juni 2016
Die Nacht in einem richtigen Bett hat gutgetan, wie nötig die Ruhe war, erkenne ich daran, dass ich tatsächlich das akustische Wecksignal benötige, um zu mir zu kommen. Ich werde in Ruhe frühstücken, dann auschecken, mich von den Schwerinern verabschieden, deren Reiseroute sie als nächstes in die Normandie führen wird, und schließlich mein Quartier für die restlichen Tage meines EM-Aufenthaltes aufsuchen.
Das „Floréal Le Panoramique“ befindet sich im sehr beschaulichen Mont-Saint-Aubert, etwa 10 Kilometer von Tournai in der belgischen Provinz Hainaut (Hennegau) gelegen. Bis zum Stadion in Lille, wo zwei meiner vier EM-Spiele ausgetragen werden, sind es gerade mal 30 Kilometer Fahrt, nach Lens 60 Kilometer, die nehme ich für die Preisersparnis gegenüber Unterkünften im Gastgeberland gern in Kauf. Lediglich nach Paris ist es etwas mehr, aber einmal geht auch das.
Dieses eine Mal steht nun am zweiten Tag der Tour auf dem Programm. Die Sache hat einen kleinen Haken: Anstoß im Stade de France ist um 18 Uhr, das Hotelzimmer steht ab 14 Uhr zur Verfügung. Die Strecke von 240 Kilometern ist grundsätzlich in dieser Zeit zu schaffen, aber bei unvorhergesehenen Ereignissen kann so ein Zeitpolster sehr schnell schmelzen – von der Suche nach einem Parkplatz in Stadionnähe (als vollkommen Ortsunkundiger) mal ganz zu schweigen. Aber ich habe Glück, als ich gegen 11:30 Uhr eintreffe, ist das Zimmer schon bezugsfertig, das verschafft mir zusätzliche zwei Stunden und lässt mich den Trip in die französische Hauptstadt deutlich gelassener antreten.
Entspannt bleiben kann ich auch, als ich nach störungsfreier Anreise gegen 14:15 Uhr zum ersten Mal am Stade de France vorbeifahre, eine Stunde später aber immer noch hinterm Steuer sitze – nicht unbedingt verzweifelt, aber doch zunehmend genervt. Wie aus heiterem Himmel strahlt mich dann aber plötzlich der Hinweis auf ein Parkhaus an, ich folge den Wegweisern und als ich gegen 15:30 Uhr den Motor abstelle, ist die Welt in Ordnung. Bis 22 Uhr habe ich Zeit, das Auto wieder abzuholen, das werde ich locker schaffen. Innerlich danke ich nochmals meinem Hotel für das frühere Einchecken und mache mich zu Fuß auf den Weg zum Stadion.
Dieser führt mich zunächst durch eine belebte Fußgängerzone zur Basilika Saint-Denis, auf deren weiträumigem Vorplatz sich hunderte schwedische Fans lautstark und trinkfreudig auf das Spiel einstimmen. Es herrscht eine ausgelassene Stimmung, man könnte meinen, das Endspiel wäre soeben mit einem Sieg der Blau-Gelben zu Ende gegangen. Diese Atmosphäre ist (auch bei den Iren) typisch für die gesamte Stadionumgebung und bildet einen bizarren Kontrast zu den an vielen Punkten postierten, zum Teil mit Maschinenpistolen bewaffneten Soldaten und Polizisten, die einem plötzlich wieder in Erinnerung rufen, wie schnell ein fröhliches, sportliches Großereignis zum Ziel terroristischer Aktionen werden kann. Mein persönlicher Eindruck ist, dass sich die uniformierten Sicherheitskräfte demonstrativ bemühen, Gelassenheit auszustrahlen.
Der entspannte gegenseitige Umgang der schwedischen und irischen Fans miteinander setzt sich später natürlich im Stadion fort. Ich sitze auf dem Unterrang der Haupttribüne schräg hinter der schwedischen Ersatzbank, im Block sitzen Träger grüner und gelber Trikots bunt gemischt und liefern sich schon vor dem Spiel temperamentvolle Gesangsduelle, „zwingen“ einander dabei zum Teil sogar, bei den Liedern des anderen mitzuhüpfen. Es macht wirklich Spaß, das mitzuerleben, auch die gegenseitigen Sticheleien, die aber nie zu Stress ausarten. „Zlatan has a big big nose“ – „Gandalf är Svensk“ – „Go home to your sexy wives” … und so weiter.
Da die Schweden zum großen Teil frühzeitig auf ihre Plätze gehen, haben sie zunächst vor dem Spiel die klare akustische Hoheit. Das ändert sich jedoch schlagartig, als von den Stadionsprechern die Mannschaftsaufstellungen verlesen und danach die den Fans gewidmeten Musikstücke gespielt werden. Es erklingt „Fields of Athenry“, ein Lied, das ich schon hunderte Male gehört habe, hauptsächlich in den punkbeeinflussten Versionen von Bands wie Dropkick Murphys oder The Mahones. Die sehr traditionelle Interpretation des Songs in der Art der Dubliners (vielleicht waren sie es ja, ich bin da nicht ganz sicher, es klang jedenfalls nach Luke Kelly oder Paddy Reilly) und die mit jedem Vers immer lauter werdende, obwohl erst zur Hälfte gefüllte irische Kurve nimmt mir fast den Atem, ich habe mich von dem Song vorher noch nie so intensiv mitgerissen gefühlt wie an diesem Abend im Stade de France. Von nun an geben die Iren den Ton auf den Rängen an.
Das heißt nicht, dass die Schweden nicht mehr zu hören wären, im Gegenteil. Auch deren Kurve sorgt fast durchgängig für lautstarke Unterstützung ihrer Mannschaft, lediglich nach der irischen Führung ist die Beteiligung kurzzeitig etwas geringer. Das ist neben dem unfassbaren irischen Support aber auch das Verdienst einer tapfer kämpfenden und stark spielenden irischen Mannschaft, die vor allem in der ersten Halbzeit mehrere hochkarätige Chancen vergibt, das Spiel frühzeitig zu entscheiden. Dass der nicht unverdiente Ausgleich für Schweden einem Eigentor entspringt, ist daher besonders bitter, aber mehr als das eine Tor durch Hoolahan (irischer geht es kaum, zu Recht auch Spieler des Tages) wollte einfach nicht gelingen. Und wer sie vorne nicht macht, … ja, ja.
Nach dem Spiel, auf dem Weg zurück zum Parkhaus, werde ich Zeuge einer lustigen Szene, als ein Polizist während der Abwanderung der Besuchermassen einen Straßenübergang kurz absperrt und ein paar verträumte Iren barsch auffordert stehenzubleiben: „STOP!“ Die Reaktion der Fans ist genial, sie singen: „… in the name of love, before you break my heart“ und das Unglaubliche geschieht. Der Polizist wiederholt sein „Stop!“, sichtbar lockerer gestimmt, und die Iren singen weiter. Als der Uniformierte den Übergang wieder freigibt, nimmt einer der Iren die Tiefstartstellung ein und bekommt mit der Trillerpfeife sogar noch das Startkommando, um perfekt getimet über die Straße zu sprinten. Derartige Deeskalation würde ich bei Begegnungen von Fans und Polizei gern öfter erleben, und damit meine ich ausdrücklich nicht nur die oft gescholtene uniformierte Seite.
Es ist schwer, nach einem solchen Spiel ohne die gängigen Klischees auszukommen (feierwütige Iren, trinkfeste Nordeuropäer, die angenehmsten Fans, die man sich vorstellen kann und so weiter), vor allem, wenn sich beide auch exakt so präsentierten und darüber hinaus unglaublich offen und freundlich auftraten. Ich kann auf jeden Fall festhalten, dass dieses Spiel sowohl auf dem Platz als auch daneben mit zu den schönsten Erlebnissen gehört, die ich beim Fußball je hatte. Das wird nur schwer zu übertreffen sein. Da trifft es sich gut, dass ich vor dem nächsten EM-Spiel (Russland-Slowakei am Mittwoch) einen Tag „spielfrei“ habe und wieder etwas „runterfahren“ kann.