Hanseator

Musik, Fußball und manchmal auch ein bisschen Hansa

Hanseatour de France 2016 – Spiel 1

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Deutschland – Ukraine 2:0, Stade Pierre Mauroy, Lille, 12. Juni 2016

Es ist Sonntagmorgen, kurz nach Mitternacht, als ich nach langer Vorfreude und Vorbereitung auf einem Parkplatz am Hamburger Volksparkstadion endlich den Motor starte. Leicht verspätet trete ich die Reise zur Europameisterschaft 2016, meinem ersten großen Fußballturnier, an, der Grund für die unfreiwillige Verzögerung ist eine andere Geschichte, die ich nur der Vollständigkeit halber und als kleine Hashtagreihe erwähnen möchte:

#UdoLindenberg #Konzert #Gedränge #Abkürzung #Nachtwanderung #Volkspark

Der Ärger über meinen Orientierungssinn, der mich kurzzeitig aufs Glatteis geführt hat, sorgt gleichzeitig für ausreichend Adrenalin, um mich die nächsten drei Stunden problemlos wachzuhalten. Vor mir liegen zunächst knapp 700 Kilometer, nach deren Bewältigung fünf Tage mit vier EM-Spielen in drei verschiedenen Stadien auf mich warten. Der etwas umständliche Prozess der Kartenvergabe (erste Verlosung, zweite Verlosung und dann noch mehrere „Resales“) hatte es mit sich gebracht, dass das endgültige Reiseprogramm erst eine Woche vor der EM-Eröffnung feststand. Von Vorteil war für mich dabei, dass mir die zu besuchenden Spiele von Anfang an egal waren und ich nicht auf eine/die bestimmte Mannschaft fixiert war. Umso schöner, dass es am Ende des Vorverkaufs sogar noch mit dem ersten Spiel der DFB-Elf im Turnier geklappt hat.

Wie gesagt, 700 Kilometer sind zu absolvieren, das ist natürlich eine Entfernung, über die man als Hansafan nur müde lächeln kann, gibt es bei uns doch in der Ligasaison manchmal Phasen, in denen wir solche und weitere Strecken alle zwei Wochen zurücklegen müssen. Da ich diesmal allein unterwegs bin, habe ich mir einen relativ großen Zeitrahmen gesetzt, der Platz für mehrere, wenn nötig längere Ruhepausen lässt. Ich will nicht später ankommen als 10 Uhr, dann öffnet der „Ticket Collection Point“, wo ich meine zwei zuletzt erstandenen Eintrittskarten abholen kann, bei denen für den Postversand nicht mehr genug Zeit war.

Meine Reiseroute führt mich von Hamburg über die A1 bis zum Kreuz Lotte/Osnabrück (schönen Gruß an den neuen Ligagegner in der kommenden Saison), von da westwärts durch die Niederlande bis Utrecht und dann in südwestlicher Richtung durch Belgien, vorbei an Antwerpen und Gent bis nach Lille. Unterwegs komme ich sogar mit nur einer längeren Pause von knapp einer Stunde Ruhezeit aus, das Reisefieber lässt mich noch vor der eingestellten Weckzeit wieder aufwachen. Läuft wie ein Länderspiel.

Ich treffe gegen halb neun am Stade Pierre Mauroy in Lille ein, wo ich nun warten muss, bis das Ticketbüro öffnet. Langweilig wird es bis dahin nicht, denn kurze Zeit später treffen verschiedene deutsche Fans ein, die für halb zehn verabredet sind, um ihre Fahnen im Stadion aufzuhängen. So sehen sie also aus, die berühmten „Borsti“, „Spenge“ und Co. Mir persönlich wäre das ja zu viel Aufriss, so früh schon auf der Matte stehen zu müssen (Stadionöffnung 18 Uhr, Anstoß 21 Uhr), und sicher lässt man die Fahnen auch nicht unbeaufsichtigt irgendwo hängen, schon gar nicht im Ausland, aber so hat eben jeder andere Prioritäten bei Fußballfahrten. Kleine Beobachtung am Rande: Einige tragen kleine Fahnenpakete, es sind anscheinend mehr Fahnen vor Ort als anwesende Besitzer.

Pünktlich 10 Uhr, ich bin gerade von einem Porsche Cayenne mit ukrainischen Kennzeichen fasziniert, in dem vier Männer offenbar von Kiew aus zur EM gereist sind, öffnet der Ticketschalter, mein frühes Erscheinen hat sich gelohnt, nach nur fünf Minuten habe ich die Tickets für Deutschland-Ukraine und Irland-Schweden in der Hand. Sogar für ein kleines Erinnerungsfoto für’s UEFA-Archiv ist noch Zeit. Ich weiß nicht, wie es gelaufen wäre, wenn ich das verweigert hätte, ich kann es aber auch nachvollziehen, wenn die Organisatoren des Turniers Fotos schöner Menschen sammeln.

Genug gefaselt, ich habe jetzt eine Verabredung mit einer Schweriner Reisegruppe, die für die erste Nacht ihr Quartier in Tourcoing, einer Art Vorort im Norden von Lille eingerichtet hat und der ich mich am ersten Tag anschließen werde. Gegen 11 Uhr fallen wir uns gegenseitig um die Hälse, ich kann dann 12 Uhr im Hotel einchecken. Jetzt ist auch Zeit, mich noch einmal ein Stündchen hinzulegen, dann begebe ich mich mit der Metro ins Stadtzentrum von Lille.

Am Bahnhof „Gare Lille Flandres“ steige ich aus, schon auf der Rolltreppe nach oben dringt Trommelklang an meine Ohren, zahlreiche Fans bevölkern den Bahnhofsvorplatz und stimmen sich akustisch auf das Spiel ein. Das Ganze funktioniert wie ein routinierter Kirchenchor: Wer das Lied nicht kann, singt einfach ein anderes, Hauptsache es ist laut. Allerdings ist der Anteil alkoholbedingter Unkoordiniertheit in Kirchenchören eher zu vernachlässigen. Dann ruft einer „Hinsetzen!“, nichts wie weg, da wollen welche eine „Humba“ machen. Das ertrage ich jetzt einfach nicht, ich hatte noch nicht mal Bier.

Ein paar Straßen weiter finden wir eine Bar, in der sich weitere Hanseaten und ein gewisser Matze Knop aufhalten. Kurzer Blick auf die Speisekarte, hier gibt es „Welsh Burger“, den hatten die 11 Freunde im kleinen EM-Heft ausdrücklich empfohlen. Leider gelingt es mir weder mit bittenden Blicken noch mit Handzeichen, dem vom großen Andrang doch etwas genervt wirkenden Kellner mehr als ein unverbindliches Nicken abzuringen. Selbst die aktive Intervention eines Hansa-Aufsichtsrates hilft nichts, zumal dieser seine Bemühungen abbricht, um Matze Knop bei dessen Flucht aus dem Lokal schnell noch zu einem gemeinsamen Selfie zu nötigen.

Egal, um die Ecke ist ein kleiner Kebap-Laden, da können wir unseren Hunger besänftigen, bevor wir in Richtung Stadion aufbrechen. Von „Lille Flandres“ sind 10 Stationen mit der anderen Metro-Linie zu fahren und noch einmal knapp 10 Minuten zu laufen. Vor den unmittelbaren Stadionzugängen ist eine erste Sperre aufgebaut, dort werden die Eintrittskarten zum ersten Mal kontrolliert, außerdem müssen dort Rucksäcke abgegeben werden. Ein etwas seltsames Prinzip wird bei der Zulassung der Mitnahme von Fahnen angewendet: Nur die jeweiligen Nationalflaggen sind erlaubt, alle anderen (mit Clubsymbolen oder irgendwelchen Aufschriften) müssen abgegeben werden. Im Stadion zeigt sich schnell, dass das wohl nicht durchgängig und überall so praktiziert wird, oder aber die dort bereits hängenden Fahnen wurden mit Zauberfarbe (unsichtbar für Ordneraugen) bemalt.

Ich habe einen ganz ordentlichen Platz in der unteren Reihe des Oberrangs auf der Haupttribüne in Höhe der Eckfahne bekommen, während des Spiels bin ich dann von einer Gruppe Schweizer umgeben, die ihre Nationaltrikots tragen, ansonsten aber – bis auf einen – die deutsche Mannschaft unterstützen, wenn sie nicht gerade mit Bierholen oder –wegbringen beschäftigt sind. Das ist an sich ja auch ok, aber sie steigen dazu jedes Mal zwischen mir und meinem Nachbarn über die Sitzreihe hinweg, was mit steigendem Pegel zunehmend schwieriger für sie und belastender für mich wird.

Das Rahmenprogramm im Stadion ist erkennbar darauf angelegt, gute Laune zu verbreiten. Stadionsprecher aus beiden Ländern gehen bei der Animation an körperliche und akustische Grenzen („Schwarz und Weiß“ als deutsche Fanhymne, dann doch lieber keine), immer wieder werden beide Fanlager aufgefordert, doch mal ein bisschen Krach zu machen. Natürlich darf da ein Schallpegelmesser nicht fehlen, eben so wenig die „Kisscam“, die ihren Höhepunkt erlebt, als eine junge Frau, während sie vor laufender Kamera geküsst wird, zeitgleich ein Selfie aufnimmt – Multitasking vom Feinsten. Und schließlich wird auch noch ein Countdown zum Anpfiff heruntergezählt. Bisschen dick aufgetragen alles, aber wer es mag …

Jetzt wird endlich Fußball gespielt. Einen Spielbericht kann ich mir sicher schenken, insgesamt ein verdienter Sieg, wenn auch recht glanzlos. Auf deutscher Seite gefällt mir Toni Kroos sehr gut, sein Spielverständnis und Gespür für die Situation ist wirklich bemerkenswert, dazu kommt sein Können am Ball – das wäre doch mal einer für Hansa, oder? Herausragend für mich auch Manuel Neuer, der mehrfach in höchster Not retten muss und auch kann. Und schließlich ist da noch Bastian Schweinsteiger, die Chronik des Spielverlaufes nach seiner späten Einwechslung könnte gut als Drehbuch für einen dieser furchtbar kitschigen Sportfilme dienen, aber sind wir mal ehrlich: Solche Momente sind es doch, die dem Sport die Faszination und Emotionalität geben, ein wirklich schöner Abschluss nach einem phasenweise etwas zähen Spiel.

Die Stimmung auf der deutschen Seite ist anfangs recht brachial und euphorisch, passt sich dann aber auch dem Spielverlauf an, da geht sicher etwas mehr als gefühlte dreißigmal „Steht auf …“ oder „Mexico“. Gegen Polen wird da auf jeden Fall mehr kommen müssen, die Ukrainer waren – mit allem Respekt – rein zahlenmäßig, aber auch gesangstechnisch sicher kein Maßstab.

Die Rückreise nach dem Spiel zieht sich dann mächtig in die Länge, vom Stadion bis zur Metrostation schleppt sich ein riesiger Menschenstrom zähflüssig dahin, dazu kommen noch Wartezeiten bei der Abholung der verstauten Rucksäcke und Fahnen. Gegen 1 Uhr kann ich dann aber endlich meinem alten Körper die verdiente Ruhe gönnen. Die braucht er auch, denn am Montag steht ein weiterer intensiver Tag mit dem Spiel, auf das ich mich am meisten freue, bevor.

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