Russland – Slowakei 1:2, Stade Pierre Mauroy, Lille, 15. Juni 2016
Meinen „Ruhetag“ am 14. Juni habe ich mit einem kleinen Besichtigungsrundgang durch die gut erhaltene mittelalterliche Altstadt von Tournai verbracht, am Nachmittag und Abend schaue ich dann im Hotel ein bisschen EM, schließlich will man ja auf dem Laufenden bleiben. Dank deutscher Programme in der Senderliste erfahre ich so auch die wichtigsten Neuigkeiten aus dem DFB-Quartier, allen voran natürlich der unglaubliche Riesenskandal um gewisse spielbegleitende Aktivitäten des Bundestrainers in der Coachingzone.
Abgesehen davon, dass ich die große Aufregung reichlich albern finde, bin ich angewidert und fasziniert zugleich, mit welcher Professionalität es manchem Journalisten gelingt, puren Voyeurismus hinter einer Maske aus investigativem Interesse und geheuchelter Anteilnahme zu verbergen: „Dieses fiese Video … wie ist das in der Mannschaft besprochen worden? … Wie verärgert ist man …?“ Was für ein erbärmliches Schauspiel, wenigstens findet Lukas Podolski die richtigen Worte.
Mit meinem dritten Spiel rückt ein anderes Thema in den Fokus, das nach den ersten Auftritten russischer Fans bei Beginn der EM die sportlichen Aspekte zu überlagern droht. Es ist die eine Frage, die (mit anderem Hintergrund) der russische Dichter Jewgeni Jewtuschenko 1961 in einem Gedicht aufwarf: Хотят ли русские войны? – Meinst du, die Russen wollen Krieg? Vorweg: Zumindest heute und hier, in Lille, wollen sie das definitiv nicht.
Nach den guten Erfahrungen vom ersten Tag stelle ich das Auto wieder in Tourcoing ab und fahre mit der Metro in die Innenstadt. Die Fahrt verläuft erneut ereignislos, lediglich die Tatsache, dass die Bahnen automatisiert und ohne jegliches Personal, einschließlich eines Zugführers, betrieben werden, ist etwas gewöhnungsbedürftig. So oder so funktioniert das System aber gut.
Vor dem Bahnhof „Lille Flandres“, an dem heute deutlich weniger los ist als noch vor drei Tagen beim deutschen Spiel, sind unzählige Kamerateams im Einsatz, die ihre Objektive begierig auf alles richten, was im weitesten Sinne nach Fan aussieht. Noch die kleinste Gruppe kommt so zu ihrem TV-Auftritt, gern werden Proben der Sangeskunst zum Besten gegeben. Es sind fast ausschließlich slowakische Fans unterwegs, eine Antwort auf Jewtuschenkos Frage wird es hier wohl nicht geben.
In der Bar vom Sonntag will ich noch einmal das Welsh-Burger-Experiment starten, diese ist heute jedoch vollkommen leer, ganz allein möchte ich da auch nicht sitzen, also steige ich wieder in die Metro und fahre zum Stadion. An der Station „Cité Scientifique“, die näher an meinem Eingang liegt, warten Polizisten mit Fotomappen darauf, einige der gesuchten russischen Krieger aus dem erwarteten Besucherstrom herauszufiltern. Noch ist recht wenig los, so dass den einzelnen Fotos mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird als den vorüber gehenden Stadionbesuchern.
Das Zuschauerinteresse für das Spiel Russland – Slowakei ist sichtbar geringer als bei anderen Spielen, es sind auch deutlich mehr Leute unterwegs, die noch versuchen, überzählige Tickets an den Mann zu bringen. Als die Stadiontore öffnen, schaue ich noch kurz einer Blaskapelle zu, die mehr oder weniger bekannte Hits in ganz witziger Form verfremdet zu Gehör bringt, dann suche ich meinen Platz auf der Tribüne, diagonal gegenüber vom ersten Spiel, und gleich neben der slowakischen Kurve.
Die Vor-Spiel-Show wirkt heute, im weniger gut gefüllten Stadion noch etwas aufdringlicher, insbesondere der Lärm, den die eigens für die russischen Fans engagierte Stadionsprecherin fabriziert, ist kaum auszuhalten, wenn sie mit schriller, überschlagender Stimme auf Russisch kreischt: Ihr seid die besten Fans der Welt! Einen Beweis für diese Behauptung bleiben die „besten Fans“ im Laufe des Nachmittags schuldig, mit einer Ausnahme, und das ist die russische Hymne. Das mag jetzt vielleicht etwas befremdlich klingen, aber für mich ist das musikalisch eine der beeindruckendsten Hymnen überhaupt und ihre Darbietung und der Gesang der russischen Kurve lassen das Herz schon schneller schlagen.
Die Slowaken machen vor dem Spiel und vor allem dann während der 90 Minuten ordentlich Alarm, die Stimmung ist fantastisch, natürlich auch bedingt durch den Spielverlauf. Obwohl die Spielanlage der Russen gar nicht so schlecht aussieht, springt für sie aber nichts Zählbares heraus – ganz im Gegensatz zur slowakischen Elf, die kurz vor der Pause mit 2:0 in Führung geht. In der zweiten Halbzeit zeigen beide Teams nicht allzu viel, der Anschlusstreffer zum 1:2 fällt dann zu spät, um am insgesamt verdienten slowakischen Sieg noch etwas zu ändern.
Zurück im Hotel, schaue ich mir das Abendspiel an, zuvor sehe ich noch einen Rückblick auf den Nachmittag in Lille. Die Frontberichterstattung der ARD lässt gleich meinen Puls steigen. Es ist ein Außenreporter zu sehen, der von fröhlich und gewaltlos feiernden Fans umringt wird, die ihm laut ins Ohr singen und wenig Respekt vor der Kamera zeigen. Das ist ja nun wirklich nichts Außergewöhnliches bei Fußballspielen, für den Kollegen, der wahrscheinlich gerade aus dem Nahen Osten hierher versetzt worden ist, offenbar schon. Während er über einen gerade beendeten Polizeieinsatz schwadroniert, bei dem angeblich eine Schlägerei unterbunden wurde (Bilder? Keine!), drückt er zugleich seine Hoffnung aus, dass die Fans hinter ihm ja vielleicht noch ihre Portion Tränengas abbekommen mögen und dann auch weinend auf dem Bürgersteig sitzen – eingekesselt seien sie ja schon. Kommentar aus dem Studio: „Diese Schwachmaten!“ Dem ist wohl ausnahmsweise nichts hinzuzufügen, auch wenn die Intention eine andere ist.