Silvester mit den Ropiraten
So ein Jahreswechsel hat immer ein bisschen was von Grenzübertritt. Man lässt Altes, Vergangenes zurück und nimmt Neues in Angriff. Dieser erste Schritt in die Zukunft ist dann verbunden mit innerer Einkehr und Rückschau, der moderne Mensch nennt diese Nabelschau gern (Selbst-)Reflexion. Dabei ist eine Umgebung ohne störende äußere Einflüsse natürlich von unschätzbarem Vorteil. Plätze dieser Art sind im hektischen, konsumfixierten Deutschland des 21. Jahrhunderts äußerst selten, und so kann ich mich sehr glücklich schätzen, seit einigen Jahren (erstmals 2010/11) meine Jahreswechsel regelmäßig in Gesellschaft guter Freunde an einem Ort verbringen zu können, der allem Anschein nach einst nur für diesen einen, oben beschriebenen Zweck geschaffen wurde.
Es handelt sich um Gülstorf, Amt Neuhaus, nur wenige hundert Meter vom Fluss entfernt am östlichen Elbufer flussabwärts zwischen Dömitz und Boizenburg gelegen. Diese Gegend symbolisiert das Thema Grenzübertritt geradezu perfekt. Zu DDR-Zeiten im hermetisch abgeriegelten Grenzsperrstreifen gelegen, begab sich das Amt Neuhaus am 30. Juni 1993 (zurück) unter niedersächsische Verwaltung und vollzog so knapp vier Jahre nach dem Fall der Mauer praktisch die letzte Ost-West-„Familienzusammenführung.“ Die Ruhe und Abgeschiedenheit der Gegend rund um die alle paar Jahre über die Stränge schlagende Elbe ist unfassbar, wer wirklich mal allein sein will, ist dort absolut richtig aufgehoben. Vergesst Vorpommern oder das östliche Brandenburg.
Mitten in Gülstorf, steht das Landhaus Elbufer, ein vom Rostocker Verein „Ohne Barrieren e.V.“ betriebenes Hotel, in dem seit dem Jahreswechsel 2003/2004 die Rostocker Ropiraten jedes Jahr in großer Runde den Übergang ins neue Jahr vollziehen, dieses Mal voraussichtlich zum endgültig letzten Mal. Nachdem im Verlauf des Jahres 2014 der Hotelbetrieb eingestellt wurde und derzeit nach einem neuen Betreiber oder Käufer für das Objekt gesucht wird, stand die diesjährige Veranstaltung lange auf der Kippe, konnte am Ende jedoch dank der engagierten Organisation durch das bewährte Team um Corinna und vor allem aufgrund der unfassbar großartigen gastronomischen Betreuung durch Iris, die Betreiberin der Vereinsgaststätte des Rostocker FC v. 1895, und ihren unermüdlichen Helfer „Hexe“, die hier an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gingen, doch noch einmal stattfinden.
Das Ereignis des Jahres im Ropiratenkalender (2014 nur übertroffen vom 20. Geburtstag), verläuft seit Jahren nach einer bewährten Routine:
29.12. Anreise und Geburtstagsfeier für zwei Ropiraten
30.12. Deichspaziergang, Whisky-Tasting, Quiz
31.12. Deichgolf „Neuhaus Open“, individuelles Vorglühen (gern mit Gemeinschaftsempfang „Dinner for one“, „Ein Herz und eine Seele – Der Sylvesterpunsch“ und – wer noch nicht genug hat – „Neues aus Büttenwarder“) und natürlich die große Silvesterparty mit Kulturprogramm
Zwischendurch steht meistens Regeneration auf dem Programm, die alle Teilnehmer (es sind immerhin mittlerweile drei Generationen anwesend) in unterschiedlichem Maße nötig haben. Ansonsten gilt das löbliche Prinzip: Alles kann, nichts muss. So gelingt Jahr für Jahr das Kunststück, in großer Runde etwas zu unternehmen, ohne dass sich jemand zu etwas gezwungen sieht. Mehr geht einfach nicht.
Zu den etwas aufwändigeren Veranstaltungen gehört immer das große Quiz, an dem in diesem Jahr fünf Teams teilnehmen, deren Zusammensetzung sich im Wesentlichen danach richtet, wann die einzelnen Teilnehmer im „Epikur“, der legendären Eventlocation des Landhauses, eintreffen. Unter den gestrengen Augen der Jury (Jule, Katrin und „Hasi“) müssen die Kandidaten in sechs Runden Fragen zu verschiedenen Themenkomplexen beantworten, und zwar ohne Inanspruchnahme von neumodischen Hilfsmitteln wie Telefonjoker oder Google. Letzteres wäre sowieso sinnlos, da der Verbindungsaufbau im mobilen Netz Glückssache ist.
Besonderes Highlight sind jedes Jahr die Fragen zum Thema Musik, das geht vom Erkennen rückwärts gespielter Titel (unvergessen das Quiz 2012, als „Let it be“ unabhängig voneinander an verschiedenen Tischen als „Wuthering Heights“ von Kate Bush „identifiziert“ wurde) über die Zuordnung von Soundtracks zu Filmen, die kein Mensch kennt, oder aber auch die Abfrage klassischer Musikkenntnisse. In diesem Jahr wird jedoch ein Tabu gebrochen, was in dieser Form bei den Ropiraten unvorstellbar war: Ich sage nur HELENE FISCHER!!! UN! GLAUB! LICH! „HASI“ RAUS! Es spricht für den Sportsgeist der Teams, dass offenbar keines die Frage nach dem aktuellen Albumtitel der Dame richtig beantwortet hat. Dennoch, das prangere ich ganz klar an, wurde hier eine Grenze überschritten, Neuhaus hat seine Unschuld verloren!
Aber es gibt noch Hoffnung für die Welt, diese erscheint einen Tag später in Gestalt dreier junger Mädchen zwischen 11 und 16 Jahren, die am Silvesterabend das Kulturprogramm gestalten. Normalerweise ist das ein Erwachsenending, da aber die verbindliche Planung für Neuhaus erst sehr spät in trockenen Tüchern war, konnte auf die Schnelle kein preisgekrönter Regisseur für den traditionellen Theaterabend mehr gefunden werden, und so sind die Mädchen kurzfristig eingesprungen. Und wie sie das taten!
Frida (11), besser bekannt als Dangerous Cotton Candy, übernimmt als Opener (sie ist so viel mehr als ein bloßer „Support Act“) und beginnt ihren unglaublich packenden Vortrag mit “You’re the reason” von Victoria Justice. Ich muss zugeben, dass ich weder den Song noch die Künstlerin im Original vorher kannte, nun da ich Frida gehört habe, ist das aber auch nicht mehr nötig. Als sie dann Leonard Cohens „Hallelujah“ vorträgt, wird es still im Publikum, man kann die Atmosphäre buchstäblich greifen. Die offenen Münder der Zuschauer können nun praktischerweise gleich zum Mitsingen des Refrains benutzt werden. Ein furioses „Rocking in the free world“ (Neil Young) beschließt Fridas umjubelten Auftritt.
Es folgen Lotte (14) und Sophia (16), die als „No Name“ die brodelnde Stimmung weiter Richtung Siedepunkt treiben. Beginnend mit einer eigenwilligen a-capella-Performance von „Mein kleiner grüner Kaktus“, geht es dann im zweiten Song gleich um ernste Themen: „Junge“ (Die Ärzte) schließt mit einer abgewandelten Schlussstrophe, die dem erwachsenen Publikum schonungslos den Spiegel vors Gesicht hält: „Eltern! Ihr nehmt doch alle Drogen!“ Das hat gesessen, zur Aufmunterung folgt eine Nummer von Elvis, einschließlich des optischen Beweises, dass dieser sich entgegen anderslautenden Gerüchten nach wie vor bester Gesundheit (und Jugend) erfreut. Das grandiose Finale der Show bildet ein neu getextetes „Kopfhaut“ (D.Ä.), mit dem die Künstlerinnen auf ihre Weise Abschied vom Elbufer nehmen.
“Im Zeitalter des Castingshows …“, ich erlaube mir jetzt mal, mein berühmt-berüchtigtes Interview im NDR-Nordmagazin anlässlich eines Pankow-Konzertes 2011 in Rostock zu zitieren, „… ist es gut, dass es noch solche Bands gibt.“ Und jetzt mal ganz ernsthaft, ohne gleich pathetisch zu werden: Kann es etwas Schöneres geben, als junge Leute, die sich völlig unbeeinflusst von kommerzverseuchter Fernseh-„Unterhaltung“ ihren eigenen Zugang zur Musik suchen und mit Hilfe von Songs und (echten!) Bands, die sie mögen, lernen, ein Instrument zu spielen? Eben!
Später am Abend tritt noch eine wahre Neuhaus-Legende auf: Möwe und die Ölmützen, hier mal eine Kostprobe von einem früheren Auftritt:
Mit ihrem Kurzprogramm stimmen die Jungs alle Anwesenden nun endgültig auf den Abschied vom Jahr 2014 und auch vom Elbufer als langjährige Silvester-Heimat ein, und zwar mit der hoffnungsfrohen Botschaft:
Neuhaus hat ein Ende, aber die Wurst hat zwei!
Danke, Gülstorf, für unvergessliche Tage!
Danke, Ropiraten, dass ich (und das als Schweriner 😉 ) fünfmal dabei und Teil dieser Gemeinschaft sein durfte!
In diesem Sinne: Frohes und gesundes neues Jahr 2015 für euch alle!