DFB-Pokal: F.C. Hansa Rostock – Hertha BSC 0:2, Ostseestadion, 14. August 2017
Es hätte ein wirklich schöner Fußballabend werden können. Traumhaftes Sommerwetter begleitet mich auf den Weg zu meinem Stammplatz auf der Südtribüne. Das Ostseestadion wird zum Anpfiff bis auf den letzten (freigegebenen) Platz besetzt sein, selbst die Stehblöcke im Norden sind nach Jahren der Tristesse bis unters Dach gefüllt. Stadionsprecher „Struppi“ stolziert später zum Verlesen der Mannschaftsaufstellung vor die Nordost-Ecke wie zu besten Bundesligazeiten und es sieht mal nicht peinlich aus.
Auch der Gästeblock lädt endlich mal wieder zum Hinsehen ein. Relativ geschlossen entern die Berliner ihre Ecke, nach ein wenig pflichtgemäßer Pöbelei wird eine Tapete hochgehalten, auf der zu lesen ist: „Gegen Kollektivstrafen!“ Akustisch illustriert wird dies mit dem DFB gewidmeten Sprechchören, in die die Heimkurve einstimmt und die schnell auf die anderen Tribünen übergreifen. Sollten entgegen allen schlimmen Gerüchten und Befürchtungen beide Fanszenen es schaffen, über ihren Schatten zu springen, und ein klares, gemeinsames Statement setzen – in den Farben getrennt (heute ja nicht mal das), in der Sache vereint?
Es ist ein beeindruckender Moment, die oft beschworene Gänsehaut erfasst den ganzen Körper und wird bis in die zweite Halbzeit hinein nicht nachlassen. Die Atmosphäre auf den Rängen ist gigantisch, beide Blöcke unterstützen mit voller Kraft ihre Mannschaften, die Begeisterung schwappt immer wieder über, oft springt das ganze Stadion spontan auf. Im Gästeblock leuchten vereinzelt Fackeln auf, nichts Dickes, aber durchaus die Atmosphäre bereichernd.
Die Spieler beider Teams wirken in ihrem Spiel beflügelt, unsere Jungs schöpfen aus der Energie des Umfeldes Kraft für engagierten, einsatzstarken Kampf gegen eine routiniert abwartende Gästeelf und verwischen so den Klassenunterschied gegenüber dem Bundesligisten. Leider springen dabei keine wirklichen Torchancen heraus, was dann am Ende eben auch zu wenig ist, um das Spiel zu gewinnen. Den Berlinern reichen eine solide Abwehr, Ballbesitz und zunehmend bedrohliches Pressing, als beim Drittligisten die Kräfte nachlassen. Ein Sonntagsschuss (Torschütze Weiser macht macht ein wenig den Eindruck, als hätte er in seiner Jugend auch die Schule nur an Sonntagen besucht) und ein perfekt ausgespielter Konter in der Schlussphase sorgen für den insgesamt verdienten 2:0-Sieg. So weit so (na ja) gut. Sportlich ist nichts Schlimmes passiert, die Hanseaten haben sich gut präsentiert und keinesfalls enttäuscht – abhaken und in der Liga weitermachen.
Auf den Rängen knüpfen beide Seiten im zweiten Abschnitt leider nicht an die Darbietung vor der Pause an. Während die Mannschaften wieder das Spielfeld betreten, ist das untere Drittel des Gästeblocks inzwischen in Schwarz gefärbt, als dann eine Blockfahne hochgehalten wird, weiß der regelmäßige Stadionbesucher, was nun folgen wird. Und richtig, die Berliner lassen sich nicht lumpen und zünden nun ein großes Feuerwerk – zahlreiche Fackeln erleuchten den Block, es fliegen Silvesterraketen und leider auch Leuchtkörper in Richtung der Südtribüne und auf das Feld. Das Spiel wird kurz unterbrochen, zu meiner Überraschung hält die Heimkurve hier noch die Füße still und beschränkt sich auf einschlägige Gestik und verbale Pöbelei.
Das war es dann aber auch mit den Überraschungen. Ab jetzt läuft alles nach einem unumstößlichen Plan, „alternativlos“ eben, wie es in der Politik so gern heißt. Mit verstörender Präzision greift ein Rädchen ins andere im universellen Getriebe, alle Akteure kennen ihren Platz im großen Gefüge. Abweichungen sind nicht erlaubt, schließlich haben „wir“ einen Ruf zu verlieren, und zwar in jeder Hinsicht. Im nun folgenden Selbstdarstellungsszenario ist kein Raum für Zwischentöne. Alle wissen (oder ahnen zumindest), was passieren muss, also geschieht es – die Verhaltensforschung spricht von bedingten Reflexen.
Nachdem die etwa 20 Hauptdarsteller auf Rostocker Seite im Schutz der großen Blockfahne Maske und Kostüme übergestreift haben, wird ein vor ein paar Jahren gestohlenes Banner der Berliner präsentiert und findet stilgerecht den Opfertod in den Flammen. Dass bei der Gelegenheit gleich noch ein paar Sitze auf der eigenen Tribüne angekokelt werden, muss wohl als Kollateralschaden durchgehen, wo gezündelt wird, brennen eben Stühle. Wäre es für die Berliner nicht Demütigung genug gewesen, ihnen das Ding einfach hinüber zu werfen? Erst recht, nach der Solidarisierung gegen den DFB vor dem Spiel? Genug Fernsehzuschauer hätten es doch dann auch gesehen. Logik ist nicht immer zwingend, da ist sie wieder, die „Alternativlosigkeit“.
Die Berliner antworten auf ihre Weise. Erneut fliegen Leuchtkugeln auf den Platz und in Richtung Südtribüne, das Arsenal im Gästeblock scheint unerschöpflich, selbst nach der 17minütigen Spielunterbrechung gehen nochmals drei einzelne Raketen auf die Reise, wie ein verspätetes Aufstoßen nach dem großen Fressen. Ihre Spieler, die sich vor dem Block mit Applaus für den offenbar tollen Support bedanken, haben das beim Schlusspfiff schon längst vergessen.
Von den anderen Tribünen erklingt – anfangs relativ leise, aber doch vernehmlich – die akustische Frage, die man sonst vermeintlichen „Söldnern“ unter den Profis so gern unter die Nase reibt: „Und ihr wollt Hansa Rostock sein?!“ Dass hier daraus ein „… unsere Hauptstadt sein…“ in Richtung des Gästeblockes gemacht wird, zeigt anschaulich, wie wenig Gespür für die Situation oder die Meinung einer sichtbaren Mehrheit des Publikums im „Stimmungsblock“ vorhanden ist. In den verbleibenden Minuten bis zum Abpfiff wird noch ein wenig vor sich hin supportet, wenn auch mit deutlich geringerer Beteiligung, aber die Luft ist spürbar raus. Vielleicht hätten der Mannschaft die nun fehlenden Prozente an Lautstärke ja in die Verlängerung geholfen – wer weiß das schon?
Inzwischen hat die öffentliche „Aufarbeitung“ begonnen, die – wie die ihr zugrunde liegenden Vorfälle – ebenfalls festen Ritualen folgt, von denen kein Beteiligter (und der sich dafür hält) ausgenommen ist. Gegenseitige Schuldzuweisung und pauschale Verurteilung per Rundumschlag sorgen (wieder einmal) für einen großen Riss mitten durch die Hansa-Fangemeinde. Unüberschaubar ist die Zahl der Experten, die in der virtuellen Welt ihre Patentrezepte und kostenlose Ratschläge zur „Selbstreinigung“ verbreiten. Wer vor dem Spiel noch im Stadion lautstark gegen Kollektivstrafen auftrat, fordert nun eben diese, anders begreifen „die“ es ja nicht. Alle in einen großen Sack stecken und mit dem Knüppel drauf, es wird schon den Richtigen treffen.
Der Rostocker Polizeichef, bekanntermaßen den handelnden Personen im Verein gegenüber mehr als kritisch eingestellt, verkündet nur wenige Stunden nach dem Spiel per Pressemitteilung seine nur notdürftig als Schlussfolgerung getarnte Einschätzung, das alles sei nur mit Wissen von Vorstand und Aufsichtsrat des Vereins und mit Hilfe „vereinseigener Strukturen“ möglich gewesen. Verwunderlich in diesem Zusammenhang, dass ihm diese Strukturen beim Zertifizierungsverfahren „Sicherheitsmanagement“ im letzten Frühjahr nicht schon aufgefallen sind. Die Frage, wie es möglich ist, ein 60 Quadratmeter großes Banner, dessen Existenz ein offenes Geheimnis ist, „unbemerkt“ und „just in time“ an Ort und Stelle zu liefern, muss davon abgesehen, natürlich trotzdem beantwortet werden, ebenso, wie es den Berlinern gelang, eine ganze „Waffenkammer“ ins Stadion zu bringen.
Die reißerische Aufbereitung in einschlägigen Medien kommt natürlich nicht unerwartet, hier gebührt den Akteuren auf beiden Fanseiten „Anerkennung“ für die Gratislieferung von Material für die aktuelle Anti-Ultra-Kampagne, die vom Boulevard nun auch auf „seriöse“ Medien herüber schwappt. Dass leider auch Journalisten hierbei völlig jedes Maß verlieren, verdeutlicht ausgerechnet der „Medienpartner“ des F.C. Hansa. Auf der Jagd nach Superlativen ist kein Vergleich absurd genug, um ihn nicht ins Feld zu führen.
Zwei Beispiele:
Raketen werden auf Fanblocks und den Rasen abgefeuert, offene Feuer auf der Tribüne und zahlreiche Vermummte zeigen sich gewaltbereit. Zuletzt gab es solche Szenen bei den Ausschreitungen während des G20-Gipfels in Hamburg zu sehen. – Quelle: https://www.nnn.de/17577541 ©2017
Der Schmusekurs der letzten Jahre führte zur Schande von Rostock. Und die Bilder, die vier Millionen TV-Zuschauer sahen, machten die Arbeit von zehn Jahren Landesmarketing kaputt – und schließen direkt an Lichtenhagen an. – Quelle: https://www.nnn.de/17577471 ©2017
Kann ich bezüglich Vermummung und Gewaltneigung mit Widerwillen noch halbwegs mitgehen, schlägt die Relativierung der tagelangen pogromartigen Exzesse vor 25 Jahren, bei denen Menschen gejagt und von einem aufgeladenen Mob mit dem Tod bedroht wurden, jedem Fass den Boden aus. Und noch ein Hinweis an den Kommentator: Ein Ultra im Aufsichtsrat mag nach seinem Verständnis nicht zielführend sein, die Zusammensetzung des Gremiums ist aber trotzdem Resultat einer demokratischen Abstimmung und Entscheidung der Vereinsmitglieder. Dem gewählten AR-Mitglied hier durch die Hintertür eine persönliche Mitschuld anzuhängen, ist unterste Schublade und in meinen Augen auch rechtlich bedenklich.
Wie soll es nun weitergehen? Die Nachbarschaft von Heimsupport und Gästeblock hat sich ein weiteres Mal als Katalysator der Ereignisse erwiesen, auch wenn man nicht außer Acht lassen sollte, dass solche „Trophäen“ ja durchaus auch von der Osttribüne aus präsentiert werden könnten, wenn den Beteiligten danach ist. Die Sammlung „erlebnisorientierter“ Fans in der unmittelbaren Nachbarschaft des Gästeblockes kann man durchaus auch in anderen Stadien beobachten, weshalb eine Verlegung der „Heimkurve“ letztlich auch keine Garantie für das Ausbleiben unerwünschter Vorfälle böte. Zugegebenermaßen würde allerdings die Eigendynamik solcher Ereignisse (Solidarisierungseffekt) bei größerer Entfernung zwischen den Lagern reduziert.
Also weg mit Heim- oder Gästeblock von der Südtribüne? Ich weiß es wirklich nicht, zumal da ja zahlreiche weitere Aspekte zu berücksichtigen sind, wie bauliche Gegebenheiten, Anreisewege, Fantrennung vor und nach dem Spiel usw. Wünschenswert wäre zunächst, die Verantwortlichen beim Verein ihre Arbeit machen zu lassen, das beginnt mit der Durchsetzung der verbindlichen Regeln für Stadionbesuche auch auf der Südtribüne. Und den zuständigen Organen obliegen die Ermittlungen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen, in deren Ergebnis überführte Gesetzesbrecher sich vor einem ordentlichen Gericht verantworten.
Während dieser Text entstand, veröffentlichte der DFB eine Mitteilung, deren Inhalt vielleicht Bewegung in die festgefahrene Auseinandersetzung zwischen dem Verband und den aktiven Fanszenen bringen könnte. Der avisierte Verzicht auf Kollektivstrafen ist schon mal ein deutliches Zeichen. Ein Erfolg des neuerlichen Dialoges setzt vor allem eines voraus: den ernsthaften Willen, und zwar auf beiden Seiten.