Der Tag beginnt gegen 9:30 Uhr mit einem Continental Breakfast. Hurra, wir haben es tatsächlich geschafft, Dusche und Aufzug zum Trotze. Angesichts des Angebotes, bestehend aus Corn Flakes, Toast, Butter und 3 Sorten Marmelade frage ich mich, welchen Kontinent die genau meinen. Der Toast ist allerdings vom feinsten und sogar der Kaffee ist, entgegen schlimmsten Erwartungen, durchaus trinkbar, also was soll’s?
Wer schon einmal mit Thommy unterwegs war, weiß, dass dieser es mit Zeitplänen sehr genau nimmt. Die gilt besonders für die Einhaltung seiner Ruhezeiten. Als kooperative Mitreisende respektieren wir das natürlich voll und ganz, und so schicken wir uns an, die Zeit möglichst sinnvoll zu überbrücken, bis wir uns um 13 Uhr treffen, um den St. Patrick’s Day möglichst stilecht in irischem Ambiente in Gallowgate zu feiern, die Party nach dem gestrigen Spiel in der Hoops Bar hatte richtig Appetit gemacht.
Zunächst sehen wir – also Matze und ich – uns aber noch ein wenig in der Gegend rund um unser Hostel um und beschließen dann, uns mal den nahe gelegenen Hauptbahnhof anzuschauen. Also auf zur Central Station in der Noodle – äh: Union – äh: auch wieder falsch, so nehmen wir den Eingang über die Midland Street, die unter dem Bahnhof durchführt. Dieser macht einen guten Eindruck, seltsamerweise stehen überall die bei uns so bezeichneten „Hamburger Gitter“ herum. Stimmt ja, heute ist auch das Pokalfinale, St. Mirren wird 3:2 gegen die Hearts aus Edinburgh gewinnen. Im Moment ist kaum ein Fan weit und breit zu sehen, später läuft uns dann doch der eine oder andere über den Weg. Insgesamt sieht es aber sehr friedlich aus, womit sich wieder die Frage nach den Absperrungen stellt.
Wir kaufen ein paar Ansichtskarten und Briefmarken, um ein paar Grüße an die Daheimgebliebenen zu versenden. Ja, Ansichtskarten, das war praktisch unsere Art, im letzten Jahrhundert zu twittern. Ein bisschen eingerostet bin ich diesbezüglich aber doch, als ich sie zurück im „Mint & Limes“ mit Worten zu füllen versuche. Ich habe da so einen Tick, möglichst nichts zweimal zu schreiben, egal wie viele Karten es sind, weil sich in meinen Wahnvorstellungen alle Empfänger meiner Kartengrüße treffen und über meine Einfallslosigkeit ablästern, so wie ich es ja auch tun würde.
Ich bin rechtzeitig mit dem Schreiben fertig und stecke die Karten in eine Jackeninnentasche, um sie irgendwo unterwegs in einen Briefkasten zu stecken. In dieser Tasche bleiben die Karten natürlich den ganzen Tag. Unterdessen wird es draußen auf der Straße unruhig, die St. Patrick’s Day Parade der Glasgower passiert gerade das Hostel. Schnell raus und ein paar Fotos gemacht.
Und da ziehen sie vorbei, junge Mädchen tragen Gedenkbanner für gefallene IRA-Kämpfer, man sieht irische und schottische Fahnen sowie Transparente verschiedener irischer Gemeinden in Glasgow wie „Calton Irish“ oder die „Baillieston Republicans“ und dazwischen deren Marching Bands. Begleitet wird der Umzug auf der Straße durch Polizeieskorte, neben dem Zug läuft auf dem Gehweg eine Art „Ordnungsgruppe“, deren Aufgabe vermutlich darin besteht, etwaige Fragen von Passanten schnell und präzise zu beantworten. So richtig entspannt wirken die Jungs nicht, aber da ich vom Vortag noch einen Anstecker in den irischen Farben aus dem Saracen’s Head an der Jacke trage, bin ich safe und ein älterer Herr gibt mir im Vorbeigehen sogar die Hand.
Während die Prozession langsam in Richtung Gallowgate unseren Blicken entschwindet, komplettiert sich unsere Reisegruppe und wir brechen auf zu unserer eigenen St. Patrick’s Day Parade. Natürlich passiert auch heute wieder das Unvermeidliche: Wir gehen vom Hosteleingang einmal rechts um die Ecke, erreichen nach 10 Metern den Nebeneingang, der zugleich ins „Mint & Limes“ führt, wo wir uns erst mal eine kleine Ruhepause und ein Cider gönnen. Ok, der Weg nach Gallowgate ist weit, nicht erst seit gestern.
Dann geht es doch endlich los, auf nach Gallowgate! Nächste Rast: Waxy’s. Wir kommen tatsächlich ohne weiteren Aufenthalt bis dorthin, obwohl einige vor „The Goose“ schwer mit sich kämpfen. In der Buchanan Street tritt gerade Clanadonia – eine wie die Urenkel von William Wallace aussehende Pipe&Drums-Band – auf und heizt den Passanten ordentlich ein. Wir schauen eine Weile zu, die Jungs verbreiten wirklich Spaß und sorgen so für die richtige Feiertagsstimmung. Dann gehen wir endlich ins Waxy’s, um noch eine kleine Stärkung für den weiteren Weg zu uns zu nehmen.
Für diese kleine Stärkung brauchen wir etwa 6 Stunden. Das liegt vor allem daran, dass im Pub bereits die St. Patrick’s Party im vollen Gange ist. Es gibt zunächst Livemusik, nach etwa einer Stunde übernimmt dann der DJ und treibt die Stimmung im ganzen Haus langsam, aber sicher in Richtung Siedepunkt. Bald tragen wir alle irgendeine seltsame Kopfbedeckung, die entsprechenden Beweisfotos gehen via soziale Netzwerke gleich live in die Heimat und sorgen auch dort für Begeisterung. Der mitreißenden Atmosphäre kann man sich kaum entziehen, Helge aus Offenbach bekommt standing ovations für eine astreine Tapdance-Einlage, bei der selbst Michael Flatley neidisch geworden wäre.
Auffällig ist, mit welcher Begeisterung sich viele jüngere Leute, die man bei solch einer traditionellen Party eher nicht vermuten würde, am Geschehen beteiligen, mit welcher Textsicherheit sie die Lieder ihrer Urgroßeltern vom ersten bis zum letzten Ton mitsingen und dazu tanzen. Der DJ scheint davon ebenfalls beeindruckt zu sein und entdeckt in diesem Zusammenhang wohl sein Herz für die Jugend – jedenfalls kann er der Versuchung nicht widerstehen, sich bei den Kids musikalisch etwas anzubiedern: trauriger Höhepunkt wird dann ein (zum Glück kurz gehaltener) Harlem Shake. Das tut doch nun wirklich nicht Not, oder?
Aber sei es drum, die Zeit vergeht bei der Party wie im Fluge, wie oben schon erwähnt, bleiben wir doch tatsächlich fast sechs Stunden da. Was jetzt kommt, können sich Leser der Berichte von Tag 1 und 2 sicher denken. In Kurzfassung: Hunger – Chopstix – Durst – MacSorley’s. Wir sind ja so berechenbar!
In MacSorley’s Bar präpariert sich gerade der letzte Live Act des Abends für seinen Auftritt. Ca. eineinhalb Stunden unterhält uns eine One-Man-Band mit handgemachter Musik – ein angenehmer akustischer Ausklang nach der mehrstündigen Beschallung im Waxy’s. Den Leuten gefällt das, und so langsam füllt sich die Bar. Ein älterer Herr mit Hearts-Schal ist gekommen, um ein bisschen vom Ärger des verlorenen Pokalfinales wegzuspülen, versichert uns aber, sich mittlerweile an die ständigen Niederlagen in wichtigen Spielen gewöhnt zu haben. Als Hansafan weiß ich genau, was er meint, ich kann mich gerade noch beherrschen, ihm nicht weinend um den Hals zu fallen.
Zum Glück ist es sofort mit der Rührseligkeit vorbei, gegen 22:30 Uhr tritt eine Gruppe nicht mehr ganz taufrischer Damen ein und belagert sofort den Tresen. Wie sich bald herausstellt, hat eines der Mädels Geburtstag, man merkt sofort, dass dies nicht die erste Bar ist, die sie heute von innen sehen. Jedenfalls amüsieren sich alle prächtig. Alle? Nicht ganz. Maici stellt plötzlich fest, dass sein Barhocker okkupiert wurde, während er mal kurz weg war, und zwar von einer der Geburtstagstussen. Man könnte nun die Gute mit augenzwinkernd erhobenem Zeigefinger für ihren Fauxpas schelten und ihr dann galant den Platz überlassen. Könnte man, muss man aber nicht. Maici entscheidet sich für Nachhaltigkeit und erobert mit festem Blick seine Sitzgelegenheit zurück, während Madam nicht zu glauben schein, was sie gerade erlebt. Ein Bild für die Götter.
Eine zweite Schöne hat es auf Maicis Guinness-Hut aus dem Waxy’s abgesehen und versucht, ihm diesen abzuschwatzen. Auch in diesem Fall verlässt unser Meister der nonverbalen Kommunikation den virtuellen Ring als Sieger. Erneut siegen Maicis Augen über noch so überzeugend vorgetragene Argumente und lassen eine weitere Maid voller Zweifel an der Welt zurück. Später bekommen die Girls natürlich noch ihren Hut, und zwar von mir. Ich bin einfach zu gut für diese Welt.
Von der Musik mitgerissen, wagen sich hin und wieder Tanzwillige vor die Bühne. Dabei wird zum Teil ganz großer Sport geboten. Eine junge Frau (nicht aus der Geburtstagstruppe, aber promilletechnisch mehr als ebenbürtig) zerrt immer wieder junge Männer mit nach vorn, die zunächst gute Miene zum bösen Spiel machen, dann aber meist nur unter Schwierigkeiten wieder von ihr wegkommen, wenn sie mal kurz unaufmerksam ist. Ein besonders bedauernswertes Opfer geht sogar zusammen mit ihr beim Schnelltanzversuch zu Boden. Ich bin wirklich heilfroh, nicht zu ihrer Zielgruppe zu gehören. Da hat sich das kleine Opfer, meinen Guinness-Hut gegen einen halben Bacardi-Cola dem Weibergeburtstag zu überlassen, bezahlt gemacht.
Etwa 30 Minuten vor „Last Order“ versiegt plötzlich der Cider-Zapfhahn, das muss ja ein bemerkenswertes Wochenende in dieser Bar gewesen sein. Zum Glück habe ich schon am Nachmittag auf Guinness umgestellt. Und so neigt sich der St. Patrick’s Day langsam, aber sicher seinem Ende entgegen. Bleibt eines offen: Wir waren nicht, nicht mal ansatzweise, in Gallowgate. Da muss ich dann wohl nächstes Jahr einen neuen Anlauf starten.
…
Fortsetzung folgt.
Bisher erschienen:
1: Welcome/Rednose/Noodles Day
Es folgen demnächst: