Holstein Kiel – F.C. Hansa Rostock 2:0, 6. August 2014
Was war die Aufregung groß vor dem Drittligaspiel Holstein Kiel gegen Hansa Rostock: Hochsicherheitsspiel, 1000 Polizisten, Restriktionen beim Kartenverkauf und das volle Krisenprogramm in allen mehr oder weniger relevanten Medien – Halbwissen, Tatsachenbehauptungen, pauschale (Vor)verurteilungen und halbherzige Dementis.
Heute, einen Tag danach, ist das große Händeschütteln und Schulterklopfen ausgebrochen. NICHTS IST PASSIERT! „Wenig Arbeit für 1.000 Polizisten“, jubelt der NDR auf seiner Homepage. Bei Twitter verkündet der „@NDRreporter“ gar voller Euphorie „Frieden!“, 100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges scheint endlich die Sonne über Europa.
Aber wie war es nun wirklich? Anbei meine subjektive und einzig wahre Chronologie der Ereignisse.
Ich habe mich für die Fahrt nach Kiel einer Fahrgemeinschaft dreier Sebastians angeschlossen, was den Vorteil hat, dass ich mir nicht so viele Namen merken muss. Um 14:05 Uhr sind wir vor meiner Haustür verabredet. Um mein ostdeutsch-angeborenes, latent gewaltbereites Ego vor Reisebeginn zu besänftigen, gehe ich erst mal noch einen Happen essen.
Die beste Kombination von Nahrungsaufnahme und Frieden findet sich bekanntlich in asiatischen Restaurants (Ex oriente pax – wusste schon eine prä-89er Blockflötenpartei). Ich gehe also ins nahegelegene Einkaufszentrum, im „Tokyo“ gibt es, passend zum heutigen Gegner, als Storchenersatz Ente süßsauer, womit streng genommen ja auch schon der abendliche Spielausgang vorweggenommen wird.
Am Nachbartisch nehmen drei ältere Herrschaften Platz, ein Ehepaar und seine Besucherin. Letztere wagt sich an eine Portion Sushi heran, während das Pärchen doch eher die konservative Zubereitung bevorzugt. Das Essen wird von allen Seiten fotografiert, sicher um im Fall der Fälle dem Pathologen die Arbeit zu erleichtern.
Wenig später sitze ich dann auch schon in einer flotten Limousine, die den dreifachen Basti und mich Richtung Förde trägt. Während wir über die A20 Richtung Lübeck brausen, lassen wir Gewalt und Brutalität Kilometer um Kilometer zurück, uns erfasst ein innerer Frieden, der wie Hitzewellen im Klimakterium emporsteigt.
Entlang unserer Fahrstrecke säumen zahlreiche Anwohner den Straßenrand. Während wir uns der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt nähern, winken von den Brücken über die Autobahn Althippies mit Blumengebinden und singen Kumbaya. Ich würde gern mit Kurt Nolzes „Der einfache Friede“ antworten, aber mir fällt der Text nicht ein und meine jungen Begleiter wissen nicht mal, wer Kurt Nolze ist.
Die Idylle wird nur noch von den sich abwechselnden Warnsignalen des Bordcomputers wegen angeblich defekter Fahrzeugbeleuchtung und zu niedrigen Ölstandes unterbrochen, die vom Fahrer – Sebastian heißt er, glaube ich – routiniert weggedrückt werden. Im Radio warnt der Nachrichtensprecher unterdessen vor dem Betreten der Sicherheitszone rund um das Holsteinstadion, die eingerichtet wurde, weil in der Vergangenheit (Zitat) „Anhänger beider Mannschaften versucht haben zu randalieren“. Jetzt wird uns doch etwas flau im Magen.
Wenig später passieren wir den Ortseingang Kiel. Es sieht nett aus, da muss aber noch einiges gemacht werden. Gleich links befindet sich der Sitz der „Kieler Nachrichten“, die beim Spiel in der vergangenen Saison ihren Lesern die Wartezeit bis zum Anstoß mit einem ebenso unterhaltsamen wie informativen Liveticker zur Ankunft der Rostocker Fans verkürzten. Dafür war diesmal wohl keine Zeit oder kein Geld da. Schade.
Todesmutig wagen wir uns bis ins Herz der Sicherheitszone und stellen das Fahrzeug zwei Steinwürfe vom Gästeeingang entfernt ab. Auch hier warten schon Einheimische auf uns, um uns mit Brot und Salz willkommen zu heißen, ein bisschen schämen wir uns jetzt sogar, obwohl wir ja nichts dafür können, dass uns die Gnade westelbischer Geburt versagt blieb.
Auf der großen Freifläche vor dem Gästeeingang treffen nach und nach immer mehr Hansafans ein, argwöhnisch beäugt von Beobachtern mit und ohne Uniform. Ein Kamerateam des NDR und mehrere Fotografen sind verzweifelt auf Motivsuche, es ist sterbenslangweilig. Auch die alle paar Minuten eintreffenden Shuttle-Busse vom offiziellen Gästeparkplatz bringen nicht wirklich Interessantes zum Vorschein, was die Fotografen nicht hindert, bei jeder weiteren Busankunft von neuem die Objektive in Stellung zu bringen, als würde aus dem nächsten Bus Barack Obama aussteigen.
Der Einlass ins Stadion geht recht zügig vonstatten. Hier ist natürlich von Vorteil, dass es keine Massenankunft wie bei Sonderzügen oder WET-Touren gibt. Dennoch darf man die schnelle Arbeitsweise des Ordnungsdienstes ruhig auch mal loben, gerade nachdem es beim letzten Mal doch einigen Ärger bis hin zu angedrohtem Wasserwerfereinsatz gab. Letzterer steht zwar auch dieses Mal bereit, aber ab und zu muss selbst so eine Maschine einfach mal an die Luft. Ist ja auch nur ein Mensch.
Unterdessen arbeitet Hansas neuer Hauptsponsor bereits an der Erringung der Lufthoheit über dem Stadion. Ein über der Stadt kreisendes Flugzeug mit hanseatischer Botschaft im Schlepptau sorgt in immer enger werdenden Schleifen dafür, dass die Störche zu Fuß gehen müssen. Rückblickend betrachtet wäre es sicher besser gewesen, diese Luftunterstützung noch während des Spiels aufrechtzuerhalten, dann wäre unserer Mannschaft ja vielleicht das Kopfballgegentor zum 1:0 erspart geblieben.
Ich glaube, jetzt muss ich wohl oder übel auch etwas zum Geschehen auf dem Platz sagen. Das Ergebnis ist bekannt, dass der 2:0-Sieg für Holstein verdient ist, wird kaum jemand abstreiten. Hansa spielt über weite Strecken sehr abwartend und zögerlich, das Mittelfeld gehört den Gastgebern, zielstrebige Aktionen nach vorn haben Seltenheitswert. Die bessere(n) Chance(n) hat seltsamerweise trotzdem der FCH, wie sie vergeben werden, ist fast schon wieder genial. Das machen die Gastgeber deutlich besser, ärgerlicherweise mal wieder durch ein Tor nach Standard und auch noch durch einen gerade eingewechselten Spieler, der zu allem Überfluss auch noch Breitkreuz heißt.
Wobei – dass die Kieler Führung nach einem Freistoß fällt, ist schon irgendwie folgerichtig. Die Furcht vor ostdeutscher Gewaltbereitschaft hat sich wohl bis auf den Rasen herumgesprochen, besonders in der ersten Halbzeit endet nahezu jeder Zweikampf mit einem Freistoßpfiff gegen die Rostocker, gern auch mal etwas zu früh, nicht dass da etwas eskaliert. Als Begünstigte dieser Linie stellen sich die Kieler natürlich schnell darauf ein und nutzen dies mitunter sehr dreist aus. Liebe Kieler, das macht sich gerade vor dem Hintergrund, dass ihr mit eurer Stadt unbedingt in den Schoß der Hanse zurückkehren wollt, gar nicht gut. Aber wie schon erwähnt, bei vernünftiger Verwertung der eigenen Chancen könnte man auf Rostocker Seite über dieses Thema lächelnd hinwegsehen.
Die ersten drei Spiele liegen hinter uns. Vier Punkte sind dabei herausgesprungen, was auf die Saison hochgerechnet schon mal für den Nichtabstieg reicht. Und eine richtig gute Halbzeit (Münster) durften wir auch schon sehen. Das ist mehr als nichts und beinahe mehr als in der gesamten letzten Rückrunde.
Nach dem Schlusspfiff feiern wir noch ein bisschen mit der Mannschaft das erste Zu-Null-Spiel der Saison, dann gehen wir zurück zum Auto, das gerade von einem Six-Pack der Polizei blockiert wird. Hmm, es gibt jetzt mehrere Möglichkeiten: Entweder fahren wir die Kiste selbst weg (freundlicherweise steckt der Schlüssel im Zündschloss). Oder wir rufen den Abschleppdienst, aber dann sitzen wir monatelang auf den Kosten. Oder wir versuchen es mit Kommunikation.
Da in letzterem unsere Stärke liegt, gerade was den nonverbalen Aspekt angeht (ihr wisst ja, ostdeutsch und so …), schreiten wir zur Tat. Sebastian (ich kann wegen der Vermummung nicht erkennen, welcher von den dreien es ist) geht auf einen der zahlreich anwesenden Ordnungshüter zu, um ein Eins gegen Eins zu vereinbaren, hat aber Pech, denn er erwischt gleich den Fahrer, der völlig unerwartet reagiert und statt uns am Pfeffer riechen zu lassen, einfach das Auto aus dem Weg fährt. Also Sachen gibt’s. Das wäre uns in Bayern oder NRW nicht passiert.
Langsam bahnen wir uns einen Weg durch die abwandernden Massen, zunächst noch Rostocker, dann von rechts kommend auch Kieler, was uns etwas überrascht, denn genau das sollte ja laut Polizeikonzept unmöglich sein. Wir gelangen unbehelligt zurück auf die Schnellstraße in Richtung Heimat, was Gerüchten zufolge möglicherweise nicht alle von sich behaupten können.
Ja, das war es also, Hansas drittes Pflichtspiel in Kiel. Die Stadt blieb auch diesmal unzerstört, von einem bisschen Rauch abgesehen, ist auch im Stadion nichts vorgefallen. Die medial hochgejubelte, angebliche erbitterte Rivalität zwischen den beiden Fanszenen ging erwartungsgemäß auch nicht über das allgemein übliche Geplänkel, das es bei fast jedem Fußballspiel irgendwie gibt, hinaus. Selbst ein schon etwas provokativer Wechselgesang zwischen Gästeblock und auf der Gegengeraden befindlichen Hanseaten endete nicht in gewaltsamer Massenkonfrontation, wie man angesichts der Geburtsortsdiskussion befürchten musste. Aber sicher wird sich auch beim nächsten Spiel gegeneinander eine extreme Gefahrenlage herbei halluzinieren lassen. Da brate mir doch einer einen Storch.
8. August 2014 um 07:47
Hallo Hanseator! Danke für den wie immer äußerst gelungenen Spielbericht, der mir Mut macht für den heutigen spannenden Abend in der AF. Ein schönes und weiterhin friedliches WE für Dich… eiserne Grüße Christian